MÜNCHEN (BLK) – Eine selbstbewusste Frau, ein alter, weiser Mann, reichlich Sake, etwas Walfischspeck und immer wieder Lotuswurzel – Zutaten dieser stillen, faszinierend fremden Liebesgeschichte aus Japan. Tsukiko ist achtunddreißig und lebt allein. Zur Liebe, glaubt sie, sei sie nicht begabt. Da trifft sie in einer Kneipe ihren alten Japanisch-Lehrer wieder, den sie nur den Sensei nennt. Auch er lebt allein, in einer etwas verwahrlosten Wohnung, wo er merkwürdige Gegenstände sammelt. Einer sucht die Nähe des anderen und scheint gleichzeitig vor ihr zu fliehen. Selten wurde die Annäherung zweier Menschen so subtil und zugleich eindringlich beschrieben. (Klappentext) (wag/wip)
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„Bald fängt die Regenzeit an“, sagte der Sensei.
Satoru grunzte zustimmend, und sein Neffe, der nun auch zu der Kneipe gehörte, nickte.
Der Sensei bestellte eine Forelle bei ihm. „Kommt sofort!“ Der Neffe verschwand in der Küche, und schon bald roch es nach gegrilltem Fisch.
„Mögen Sie Forelle?“ fragte ich.
„Ich esse die meisten Fische gern. Salz- und auch Süßwasserfische“, antwortete er.
„Also mögen Sie Forelle.“
„Was haben Sie denn dauernd mit der Forelle, Tsukiko?“ fragte der Sensei und musterte mich.
„Ach, nichts“, wehrte ich eilig ab und wich seinem Blick aus. Er sah mich nachdenklich an.
Der Neffe brachte die Forelle aus der Küche. Sie war mit einer Soße aus Essig und Bitterknöterich angerichtet.
„Das Grün des Bitterknöterich passt gut zur Regenzeit“, murmelte der Sensei, in die Betrachtung der Forelle vertieft.
Satoru lachte. „Sensei“, sagte er. „Sie sind ja ein Poet.“
„Ich bin kein Poet“, antwortete der Sensei. „Es handelt sich lediglich um eine Impression.“ Geschickt zerlegte er die Forelle mit seinen Stäbchen und verspeiste sie. Der Sensei hatte eine sehr sorgfältige Art zu essen.
„Wenn Sie Forelle so gern mögen, fahren Sie vielleicht auch in ein Onsen, das berühmt für schmackhafte Forellen ist?“
Der Sensei zog die Augenbrauen hoch. „Deshalb fahre ich doch nicht extra in ein Thermalbad“, sagte er und ließ die Augenbrauen wieder sinken. „Was ist denn heute nur los? Mit Ihnen stimmt doch etwas nicht.“
Takashi Kojima hat mich zu einem Ausflug eingeladen, hätte ich beinahe gesagt. Aber natürlich sagte ich es nicht. Der Sensei trank einen Sake in genau der richtigen Geschwindigkeit. Er nahm einen Schluck, machte eine kurze Pause, nahm wieder einen Schluck und achte wieder Pause. Dagegen trank ich viel schneller als sonst. Ich goss mir ein, trank aus, goss gleich wieder ein und trank aus. Ich war schon bei meinem dritten Fläschchen.
„Ist etwas passiert, Tsukiko?“ fragte er.
Heftig schüttelte ich den Kopf. „Nein, nichts. Durchaus nicht. Was soll denn passiert sein?“
„Wenn nichts passiert ist, brauchen Sie auch nicht so übertrieben zu verneinen.“
Von der Forelle waren jetzt nur noch die Gräten übrig. Der Sensei tippte noch einmal mit den Stäbchen auf die zarten, säuberlich vom Fleisch getrennten Gräten. „Sehr schmackhaft, diese Forelle“, sagte er zu Satoru, der sich für das Lob bedankte.
Hastig trank ich aus. Der Sensei bedachte das Schälchen in meiner Hand mit einem missbilligenden Blick.
„Sie trinken heute zuviel, Tsukiko“, flüsterte er.
„Lassen Sie mich in Ruhe“, sagte ich, füllte abermals mein Schälchen und kippte es auf ex, womit meine dritte Flasche leer war. „Noch eine, bitte“, bestellte ich bei Satoru, der ein kurzes „Sake!“ in die Küche rief. „Tsukiko“, mahnte der Sensei und sah mir ins Gesicht. Ich drehte mich weg.
„Jetzt haben Sie zwar schon bestellt, aber das heißt ja nicht, dass Sie auch alles austrinken müssen“, sagte er ungewöhnlich streng und klopfte mir leicht auf die Schulter.
„Ja“, antwortete ich leise. Plötzlich spürte ich die Wirkung des Sake. „Sensei, bitte, klopfen Sie mir noch einmal auf die Schulter“, lallte ich mit schwerer Zunge.
„Sie führen sich auf wie ein verzogenes kleines Kind.“ Er lachte und klopfte mir noch ein paarmal auf die Schulter.
„Bin ich doch auch, schon immer gewesen.“ Ich berührte die Gräten auf seinem Teller. Sie gaben sachte nach. Der Sensei nahm die Hand von meiner Schulter und führte bedächtig sein Sakeschälchen zum Mund. Eine Sekunde lehnte ich mich an ihn, zog mich aber sofort wieder zurück. Ob er es bemerkt hatte? Er trank, ohne etwas zu sagen.
Als ich zu mir kam, war ich bei ihm zu Hause.
Ich lag auf den bloßen Tatami. Über mir sah ich ein Esstischchen und geradeaus vor mir die Füße des Sensei. Mit einem überraschten Ausruf fuhr ich hoch.
„Sind Sie wach?“ fragte er mich. Die Läden und die Glasschiebetüren waren geöffnet, und kühle Nachtluft strömte ins Zimmer. Am Himmel stand verschleiert der Mond. Er hatte einen dunklen Hof.
„Bin ich eingenickt?“ „Das kann man wohl sagen.“ Der Sensei lachte. „Tief und fest geschlafen haben Sie.“
Ich sah auf die Uhr. Sie zeigte kurz nach zwölf.
„Aber doch nicht lange, oder? Höchstens eine Stunde.“
„Dafür, dass Sie in einem fremden Haus sind, reicht es.“ Wieder lachte er. Sein Gesicht war stärker gerötet als sonst. Hatte er weitergetrunken, während ich schlief?
„Was mache ich eigentlich hier?“ fragte ich. Der Sensei riss erstaunt die Augen auf.
„Das wissen Sie nicht mehr? Sie haben randaliert und lautstark darauf bestanden, mit zu mir zu kommen.“
Ach so. Ich legte mich wieder hin und presste meine Wange auf die Tatami. Wirr breiteten sich meine Haare auf dem Boden aus. Im Liegen beobachtete ich das dunkle Wolkentreiben. Ich wollte nicht mit Takashi Kojima wegfahren, das wusste ich jetzt. Die Wange auf die Tatami gedrückt, erinnerte ich mich an das leichte Gefühl von Fremdheit, das mich nie verließ, wenn ich mit Takashi zusammen war.
„Gucken Sie mal, Sensei, das Muster der Tatami hat sich hier abgezeichnet.“
„Wo?“ fragte er und kam um das Tischchen herum.
„Ach ja, ganz deutlich, tatsächlich.“ Er berührte meine Wange. Seine Finger fühlten sich kalt an, und er wirkte größer als sonst, was sicher damit zusammenhing, dass ich von unten zu ihm aufsah. „Ihre Wange ist heiß, Tsukiko.“
Er ließ seine Finger auf ihr ruhen. Die Wolken huschten über den Mond, verdeckten ihn und gaben ihn in der nächsten Sekunde wieder frei.
„Das kommt, weil ich betrunken bin“, sagte ich. Der Sensei schwankte selbst ein bisschen.
Ob er auch betrunken war?
„Sensei, wollen wir mal zusammen verreisen?“ fragte ich.
„Verreisen? Wohin?“
„Vielleicht in ein Ryokan, in dem es leckere Forellen gibt.“
„Die Forellen in Satorus Kneipe sind mir lecker genug.“
Er nahm die Hand weg. „Dann zu einer heißen Quelle ins Gebirge.“
„Nein, man braucht doch nicht ins Gebirge zu fahren, um heiß zu baden. Mir genügt das Kranich-Bad um die Ecke.“
Er kniete kerzengerade und in korrekter Haltung neben mir. Wie immer. Er schwankte nicht mehr.
„Wollen wir nicht mal zusammen wegfahren?“ Ich setzte mich auf und sah ihm in die Augen.
„Wir fahren nirgendwohin“, erwiderte er und schaute zurück.
„Ich würde so gern mit Ihnen verreisen.“
War ich betrunken? Ich begriff selbst nur die Hälfte von dem, was ich da redete. Nein, eigentlich wusste ich es ganz genau, aber mein Geist verstellte sich und tat so, als verstünde er nur die Hälfte. „Wohin sollten wir überhaupt fahren?“
„Egal“, rief ich. „Wenn Sie nur mitkommen.“
Die Wolken trieben über den nächtlichen Himmel. Der Wind war stärker geworden, und die Luft fühlte sich feucht und schwer an. „Beruhigen Sie sich, Tsukiko, beruhigen Sie sich“, sagte er milde.
„Aber ich bin ganz ruhig.“
„Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich ins Bett.“
„Das werde ich nicht tun.“
„Reden Sie doch nicht so unvernünftig daher.“
„Aber ich will nicht vernünftig sein. Weil ... ich liebe Sie.“
Kaum hatte ich den Satz zu Ende gesprochen, wurde mir ganz heiß. Ich hatte einen Fehler gemacht. Ein erwachsener Mensch sollte andere mit seinem Gerede nicht in Verlegenheit bringen, nichts sagen, was es den Beteiligten unmöglich macht, einander am nächsten Morgen noch unbefangen in die Augen zu schauen. Aber jetzt war es heraus. Denn ich war keine erwachsene Frau. Nie im Leben würde ich so erwachsen sein wie Takashi Kojima. Ich liebe Sie, wiederholte ich zur Sicherheit. Der Sensei starrte mich sprachlos an.
In der Ferne grollte es. Kurz darauf zuckte ein Blitz zwischen den Wolken hervor. Einige Sekunden später donnerte es wieder.
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Literaturangaben:
KAWAKAMI HIROMI: Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß. Eine Liebesgeschichte Übersetzt aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, Kimiko Nakayama-Ziegler. Carl Hanser Verlag, München 2008. 192 S., 17,90 €.
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