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„Surreale Welten“ – Wie die Wirklichkeit zum Traum und der Traum zur Wirklichkeit wurde

Im Juli 2008 wird die Museumslandschaft Berlins um eine Attraktion reicher – die Sammlung Scharf-Gerstenberg im östlichen Stülerbau

© Die Berliner Literaturkritik, 25.07.08

 

Seit 1910 hatte der Berliner Sammler Otto Gerstenberg, damaliger Direktor der Victoria Versicherung, eine der größten Sammlungen seiner Zeit zusammengetragen, die von den alten Meistern bis zu den Impressionisten reichte. Spitzenwerke der Sammlung, die zur Sicherheit der Berliner Nationalgalerie anvertraut wurden, kamen nach Kriegsende als „Beutekunst“ nach Russland und befinden sich bis heute in der St. Petersburger Eremitage und im Moskauer Puschkin-Museum. Die Gerstenberg-Enkel Walther und Dieter Scharf begannen in den 50er Jahren, eigene Sammlungen aufzubauen, und bezogen dabei die verbliebenen Bestände des Großvaters mit ein. Dieter Scharf konzentrierte sich in seiner Sammlertätigkeit auf der Grundlage der Zyklen von Goya, Méryon und Manet vor allem auf das Phantastische und Surreale und konnte seine herausragende Sammlung bereits 2000 unter dem Titel „Surreale Welten“ in Hamburg, Wuppertal, Tübingen und Berlin der Öffentlichkeit präsentieren. Kurz vor seinem Tode verwandelte Scharf seine Sammlung in eine Stiftung, die zunächst mit einem auf 10 Jahre befristeten Dauerleihvertrag für die Staatlichen Museen zu Berlin gewonnen werden konnte.

Seinen Bestimmungsort hat nun die Sammlung Scharf-Gerstenberg im Komplex des östlichen Stülerbaus in Berlin-Charlottenburg (aus dem 2005 das Ägyptische Museum ausgezogen war) gefunden, gegenüber der auf Matisse, Picasso, Klee und Giacometti konzentrierten Sammlung von Heinz Berggruen. Der Komplex wurde von dem Architekturbüro Sunder-Plassmann umgebaut und mit einem großzügig verglasten Foyer mit Café versehen. Man betritt linker Hand die Treppenhausrotunde des streng symmetrischen Stülerbaus und kann in den kranzförmig angelegenen Kabinetten die komplette „Carceri“-Serie Pironesis, 13 „Caprichos“ von Goya, zwei Räume Paul Klees, Klingers „Phantasien über einen verlorenen Handschuh“, Edouard Manets grafischen Zyklus „Der Rabe“ (nach einem Gedicht von E.A. Poe), die beklemmenden Pariser Szenerien von Charles Méryon, des „Piranesi Frankreichs“, die Traumwelten Odilon Redons, die fast abstrakten Tuschezeichnungen Victor Hugos bewundern – sie alle gehören zu den Vorläufern und Anregern des Surrealismus. Dann folgen die Meister surrealer Welten: James Ensor, Alfred Kubin, Frantisek Kupka, Edvard Munch, Hans Bellmer, WOLS, Skulpturen und Zeichnungen von Henri Laurens, Jacques Lipchitz, Julio Gonzalez, Alberto Giacometti.

Rechter Hand geht es dann durch das Tempeltor von Kalabscha (um 20 v. Chr.) – einem imposanten Bauwerk aus dem Ägyptischen Museum – in den langgestreckten einstigen Marstall und zu den klassischen Surrealisten und Vertretern der Art Brut („Grobe Kunst“), deren Wurzeln in den Mythen, Märchen und Träumen einer irrealen Welt liegen: Victor Brauner, Carlo Carrà, Giorgio de Chirico, Salvador Dalí, Oscar Dominguez, Max Ernst, Gonzalez, George Grosz, Georges Hugnet, Fernand Léger, René Magritte, André Masson, Joan Mirò, Richard Oelze, Francis Picabia, Picasso, Kurt Schwitters, Kurt Seligmann, Yves Tanguy u.a., darunter eine zentrale Werkgruppe von Jean Dubuffet, dem Namensgeber der Art Brut, der grob-archaische Figuren in grobe Malpasten einritzte. Dem schließt sich der Vier-Schäfte-Saal mit zeitgenössischen Künstlern (von Willi Baumeister bis Gerhard Altenbourg und Rolf Szymanski) an.

Der von Melanie Franke und Dieter Scholz herausgegebene Katalog, der die ausgestellten Arbeiten in einem großzügigen Tafelwerk vorstellt und ein Werkverzeichnis mit Kommentaren enthält, erörtert in einer Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen Spezifika der Sammlung wie des Surrealismus überhaupt. Zwei Beiträge würdigen die Sammler Otto Gerstenberg (Julietta Scharf, Hanna Strzoda) und Dieter Scharf (Ewald Rathke). Aus dem Katalog von 2000 wurden übernommen: „Erzählungen, ohne Zusammenhang“ von Werner Hofmann, „À rebours. Gegen den Strich“ von Margret Stuffmann, „Surrealismus: Befreiung und Schock“ von Uwe M. Schneede, „Paul Klee: Die Intimität des Privaten“ von Josef Helfenstein, „Hans Bellmer und das Double der Wirklichkeit“ von Birgit Käufer und „Surreale Sprachen in informellen Welten“ von Mechthild Haas. Neu hinzugekommen sind Aufsätze der beiden Herausgeber: „Automatismus – fast wie von selbst“ (Melanie Franke) und „Das Medium der Zeit: Surrealismus und Film“ (Dieter Scholz). Eine Chronologie der surrealen Welten, eine Bibliographie und ein Grundriss der Sammlung Scharf-Gerstenberg sind im Anhang untergebracht.

Der Surrealismus, der den Schwerpunkt dieser Sammlung bildet, war von dem Wunsch nach absoluter Freiheit beseelt. Er wollte die Menschen befreien, sie erretten, versprach Erlösung, wenn man nur an sie glaubte. Was hier gepredigt wurde, war allerdings nicht der Glaube an die Moderne oder gar an die Technik. Die Kunst und das Leben konnten sich nur erneuern, wenn sie in verbotene Bereiche des Geistes eindrangen – das Unterbewusstsein. Das Unterbewusstsein würde unser Weltgefühl dadurch erneuern, dass es ein Netzwerk von verborgenen Beziehungen offenbare, das sich unter der Oberfläche des Bewusstseins verbirgt. Zufall und Erinnerung, Geheimnisse und Sehnsüchte, Melancholie und Angst, Begierde und Koinzidenz würden in einer neuen Realität – der Sur-Realität, der Überwirklichkeit – zusammenkommen. Das Instrument dazu bot der Traum, er war das Tor zur Kunst. In den Träumen sprach das Es, der träumende Geist war für die Surrealisten uneingeschränkte Wahrheit. Geistige Verwirrung sollte den Zugang zu der ganzen „dunklen Seite“ des Geistes vermitteln, dem Sitz schmerzender , aber nicht widerlegbarer Wahrheiten über die Gesellschaft, die menschliche Natur und besonders die Kunst. „Wenn der Verstand träumt, gebiert er Monstren“, hatte Goya unter die Radierung von einem träumenden, über einen Tisch zusammen gesunkenen Mann geschrieben. Diese „Monstren“ wollten die Surrealisten sezieren.

So gibt es eine Verbindung zwischen den Visionen Piranesis und Goyas – Piranesis „Carceri“, seinen erdachen Gefängnissen mit ihren gewaltigen Raumfluchten und unendlichen Labyrinthen, und Goyas „Caprichos“, seinen das Halbdunkel und Zwischenwelten bevölkernden Geschöpfen, dieser Mischung aus Alltäglichem, Trivialem und Ritual – (die genauso wichtigen englischen Künstler wie Füssli, Blake, „Mad“ John Martin und Richard Dadd, aber auch Arnold Böcklin fehlen jedoch in der Sammlung),  den Traumwelten Odilon Redons und den glitzernden symbolistischen Mythen eines Gustave Moreau. Den kleinen Trophäen und Zeichen Paul Klees, die er sich aus den Bereichen der Botanik, Astronomie, Physik und Psychologie holte, James Ensors Visionen von Panik und Aussichtslosigkeit, Dalís leuchend klare, vergiftete und verkleinerte Welten, in die man wie durch die verkehrte Seite eines Fernglases schaut, deren tiefe Perspektiven und dunkle halluzinatorische Schatten das Auge faszinieren, aber den Körper nicht verlocken. Oder den Erschrecken auslösenden Arbeiten Magrittes, wo die Dinge ihren Namen verlieren oder zumindest ihre Bedeutung verändern – eine Verbindungslinie, die eine unsystematische, aber kraftvolle Gegentradition zu den „vernünftigen“ Bildern der europäischen Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts schafft. Hier ist die Tradition des Irrationalen, deren moderner Zweig eben der Surrealismus ist.

Eine der Quellen nicht nur für Giorgio de Chirico, den Italiener griechischer Abstammung, war Max Klinger, der eine bemerkenswerte Radierungsfolge „Paraphrase über den Fund eines Handschuhs“ gemacht hatte, auf welcher der Protagonist – der lange Glacéhandschuh einer Dame – eine Reihe von sonderbaren Traumverwandlungen durchmacht und dabei zum Mittelpunkt ungenannter und vielleicht auch nicht zu benennender Sehnsüchte wird. Dieser Objektfetischismus wirkte sich in de Chiricos Bildern aus, die übersättigt sind von menschlichen Emotionen und von Erinnerungen fast überquellen. Doch die meisten Bewohner in seinen Landschafen sind weder Mensch noch Plastik, sondern ein Zwischending: Figuren, Schneiderpuppen, aus Einzelteilen und Emblemen, Werkzeugen und Mementos zusammengebaut, Symbole des fragmentarischen modernen Ichbewusstseins.

Das surrealistische Schönheitsideal war eine Schönheit des Seltsamen, die aus unerwarteten Zusammenstellungen von Worten, Klängen, Bildern, Dingen und Personen entstanden war – entsprechend dem Satz von Lautréamont: „Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“.

Die Sexualität war als Domäne sozialer Tabus eines der Lieblingsthemen der Surrealisten. In Hans Bellmers Arbeiten fand die sadistische Bilderwelt der surrealistischen Kunst ihren Höhepunkt. Er schuf eine Gliederpuppe mit Kugelgelenken, die er einfach „Die Puppe“ nannte. Man konnte ihre Glieder nach Belieben biegen, verrenken oder austauschen, das machte sie zu einem hervorragenden Bildträger für sexuelle Phantasien von Vergewaltigung und Brutalität. Bellmer fotografierte die Puppe in verschiedenen Stellungen und Situationen, auf einem Suhl, in einer Zimmerecke, vor der Tür, auf dem Fußboden, in einem Gebüsch. Die Fotos sahen aus wie Polizeifotos von einem Verbrecher. Die Puppe bot eine Vielzahl pornografischer Möglichkeiten, und ihr manipulierbares, willfähriges Aussehen war die Summe all dessen, was sich die Surrealisten unter der Frau als „schönem Opfer“ vorstellten.

Ende der 30er Jahre begann Max Ernst seinen Abschiedsgesang auf Europa zu malen, „Schlafwandlerische Taucher“, „Der Triumph der Liebe“ und „Zypressen“, denen dann in Amerika „Europa nach dem Regen II“ folgen sollte. Im ersten Bild haben sich zwei die Köpfe zusammensteckende und Schlimmes ausheckende Vogelwesen, über denen ein Geier hockt, zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengeschlossen, deren dunkler Vordergrund sich aus der Verschattung der Körper erklärt. „Der Triumph der Liebe“ erweist sich als „falsche Allegorie“, so der Untertitel, denn die nackte Frau auf den zusammenwachsenden Bäumen bittet ein Engelsungetüm um Gnade oder scheint ihm zu huldigen. „Die Zypressen“ gleichen schwammartig wuchernden Figurationen, die nach einer vernichtenden biblischen Sintflut zurückgeblieben sein könnten.

So kann man in der Sammlung überraschende Endeckungen machen, ungewöhnliche Assoziationen herstellen, einen imaginären Dialog zwischen den Zeiten und Welten führen, aber auch Verunsicherungen, Unstimmigkeiten, Befreiungen und Verwirrungen in den jeweiligen Arbeiten nacherleben, wie sie sich nun einmal aus dem Blickwinkel einer Privatsammlung ergeben. Denn dem Sammler Scharf kam es ja nicht um eine kunsthistorische Methodisierung und Systematisierung, geschweige denn Vollständigkeit an, sondern er folgte ganz seinen individuellen Neigungen, wollte bestimmte Beispielmethoden und konnte oft nur einen begrenzen Ausschnitt vermitteln, er bevorzugte die einen Künstler, ließ wiederum andere aus, die eine Spielart, Methode oder Technik des Surrealismus. So kann dem Surrealismus in Amerika oder der gänzlich unübersichtlichen Entwicklung des Surrealismus nach 1945, auch jener Künstler, die lediglich surrealistische Elemente integrierten, kaum Rechnung getragen werden. Hieraus aber ergibt sich auch die Chance, durch Sonderausstellungen Quer- und Längsschnitte zu ziehen, einzelne Künstler, Spielarten oder Grenzbereiche (etwa die zwischen Surrealismus und Symbolismus) herauszustellen, so dass dieses Museum auch dann noch, wenn der Reiz des Neuen zu erblassen beginnt, seine stimulierende Faszination auszuüben vermag.

Literaturangaben:
FRANKE, MELANIE / SCHOLZ, DIETER (Hrsg.): Surreale Welten. Sammlung Scharf-Gerstenberg. Herausgegeben von den Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2008. 440 S., 59,90 €.

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