Ein bizarres Bild bietet sich den Boxfans in der Berliner Bockbrauerei am Tempelhofer Berg am 21. Juli 1933: Johann Trollmann, in Berlin ansässiger Profi-Boxer im Halbschwergewicht, hat seinen Körper für den Kampf gegen Gustav Eder mit weißem Puder eingerieben und sich die schwarzen Locken wasserstoffblond gefärbt. Indem er den Typus des arischen Faustkämpfers karikiert, macht er sich über die national gesinnten Funktionäre seiner Sportart lustig und erklärt deren propagiertes Ideal optisch zur Farce.
Das Spektakel hat eine tragische Vorgeschichte: Einen Monat zuvor hat der Verband Deutscher Faustkämpfer (VDF) Trollmann den deutsche Meistertitel aberkannt, den er sich – ebenfalls in der Bockbrauerei – nach Punkten gegen Adolf Witt geholt hatte. Offizielle Begründung: die ungenügende Leistung beider Kämpfer. In Wahrheit konnte nicht sein, was nicht sein durfte: Als Sinti widerspricht der Mann mit dem dunklen Teint den rassenideologisch geprägten Vorstellungen, die sich die Herren vom mächtigen VDF von einem deutschen Berufsboxer machen.
Neben äußerlichen Attributen geht es ihnen um einen „deutschen Kampfstil“. Dieser wird in jenen Tagen vom Ex-Boxer Ludwig Haymann erfunden. In seiner unklaren Definition („Fuß an Fuß, Kopf an Kopf, Hauen, bis einer umfällt, ehrliches Keilen, keine Tricks, kein Bluffen“) stilisieren die Offiziellen diesen Stil im Sinne der neuen Machthaber zum Gegenentwurf eines „unsauberen jüdischen Boxens“. Ein Stil, den sie Trollmann vorwerfen. Der ist dafür bekannt, dass er seine Gegner leichtfüßig austanzt und gerne Ausweich-Manöver startet anstatt den Nahkampf zu suchen.
Obwohl er mit diesem Stil der Beste seiner Gewichtsklasse ist, darf er nicht Deutscher Meister werden.
In seinem nächsten Kampf, an diesem denkwürdigen 21. Juli gegen Wolfgang Eder, ändert Trollmann neben seinem Äußeren auch seinen Boxstil, geht stärker in den Infight, verliert aber nach einem harten Schlagabtausch in der fünften Runde durch k.o. Zu diesem Zeitpunkt ahnt er noch nicht, dass es ihn in seinem Leben noch viel ärger treffen wird.
Nach dem erzwungenen Ende seiner Boxer-Laufbahn heiratet er 1935 auf dem Standesamt in Charlottenburg eine Berlinerin und bekommt eine Tochter mit ihr. Doch die Lage für Zigeuner im Dritten Reich verschlimmert sich Jahr für Jahr. Laut Repplinger verlässt Trollmann seine junge Familie 1938, um sie vor der Verfolgung durch das Regime zu schützen und taucht bei Freunden und Verwandten in seiner Heimatstadt Hannover unter. Nach einem kurzen Kriegseinsatz in der Wehrmacht versteckt er sich erneut. Erst im Oktober 1942 spürt ihn die Gestapo auf und lässt ihn ins KZ Neuengamme bei Hamburg deportieren.
Roger Repplingers Doppel-Biografie „Leg dich, Zigeuner“ erzählt nicht nur die Lebensgeschichte Johann Trollmanns, sondern auch die Vita von Otto („Tull“) Harder. Der spätere SS-Offizier und Lagerkommandant war in den 1920er Jahren als Torjäger mit dem Hamburger SV Deutscher Meister geworden und hatte 15 Länderspiele für Deutschland bestritten.
1942/43 sind beide zeitgleich im KZ Neuengamme bei Hamburg. Trollmann als Häftling, Harder als Aufseher. Repplinger inszeniert eine flüchtige Begegnung der ehemaligen Spitzensportler, die als inhaltliche Klammer fungiert, sich aber nur am Rande ereignet. Die Stärke des Bandes liegt vielmehr darin, dass Repplinger von zwei Einzelschicksalen ausgehend die vorherrschenden Geisteshaltungen und historischen Ereignissen jener Tage nachempfinden lässt. Dabei spannt der Autor den Bogen von Trollmanns und Harders Kindheit im Kaiserreich über die Weimarer Jahre und die NS-Zeit bis zur Adenauer-Ära. Den Menschen verachtenden Verhältnissen in den Arbeits- und Konzentrationslagern räumt er zu Recht viel Platz ein. Die aussichtslose Situation der Häftlinge und die Rücksichtslosigkeit der SS-Wächter wird auf beklemmende Art lebendig.
Systematisch unterernährt, gequält und medizinisch schlecht versorgt, müssen die KZ-Häftlinge schuften bis zum Umfallen. Viele sterben unter Qualen an Hunger oder Krankheiten oder werden einfach totgeschlagen. „Er ahnt, dass er inzwischen wie die anderen aussieht. Gespenst unter Gespenstern. Der Häftling hat kein Alter, weil er kein Gesicht hat“, so schildert Repplinger Trollmanns Selbstwahrnehmung in Neuengamme.
Das erste Kapitel führt jedoch zunächst ins Braunschweig des Jahres 1907. Der 15-jährige Otto Harder betreibt die falsche Sportart: Fußball ist im Kaiserreich als undeutsch verpönt. Zur Strafe gibt’s den Rohrstock vom Vater. „Wann ist schon einmal etwas Gutes aus England gekommen, fragt sich der alte Harder. Aus England kommen die Gewerkschaften, die Streiks, die Labour Party. (...) Wer weiß, was die Juden, die Engländer, die Freimaurer da wieder ausgeheckt haben, um Deutschland zu schwächen (...).“ Turnen sollte er, der Otto, findet Fritz Harder – um im Ernstfall als durchtrainierter Soldat seinen Mann zu stehen.
Mit zunehmender Popularität gelingt es in den folgenden Jahren auch dem Fußball, als militärisch nutzbringend anerkannt zu werden. Die Anschauung, dass Körper-Ertüchtigung der Wehrfähigkeit junger Männer zu dienen habe, ist weit verbreitet. Die Nationalsozialisten können auch dahingehend auf bestellten Boden zurückgreifen.
Am Fußball und am Boxsport zeigt Repplinger auf, dass die politische Vereinnahmung und Instrumentalisierung von Sportarten für militärische Zwecke stets an ihre gesellschaftliche Akzeptanz geknüpft war. „Boxen und Jiu-Jitsu sind mir immer wichtiger erschienen als irgendeine schlechte, weil doch nur halbe Schießausbildung“, zitiert Repplinger aus „Mein Kampf“. Hitlers Fürsprache sorgt für die Aufnahme der ehemaligen Randsportart ins Sportprogramm der SA – ideologisch begründet von Autoren wie Dr. Hans Schingnitz („Boxen als Grund- und Kampfgeist“, 1935).
Die handelnden Figuren sind schlüssig nachgezeichnet. Wenn sie sich in fiktiven Dialogen und inneren Monologen äußern, wie etwa Ottos Vater Fritz Harder zur Fußball-Frage, nimmt man ihnen das ab. Beide Harders repräsentieren zudem den viel beschworenen Untertanengeist. Doch die fiktiven Elemente bergen auch das Problem einer holzschnittartigen Vereinfachung der Charaktere: War Otto Harder im Ersten Weltkrieg wirklich der begeisterte Frontsoldat, als der er dargestellt wird? War er tatsächlich ein derart willenloser, auf Kameradschaft getrimmter Untertan, auf den die SS wie ein neues, familiäres Fußballteam wirkte?
Repplinger weiß um diese Kritik und wirbt in der anschließenden Danksagung um Vertrauen: „Der Leser muss sich an diesen Stellen darauf verlassen, dass der Autor seine Figuren versteht, sicher kann man sich da nicht sein.“ Er kann auf intensive Recherchen verweisen, auf zeitgenössische Schriften und Zitate, Aussagen von Zeitzeugen oder Gespräche mit Verwandten Trollmanns.
Unterm Strich bleibt ein dickes Lob für das ungewöhnliche Unterfangen einer Doppel-Biografie zweier Spitzensportler. Angereichert mit viel Faktenwissen spiegeln sich darin die gesellschaftlichen Verhältnisse im Wandel der Zeit. Die Schilderungen setzen die politischen Ereignisse in Bezug zur Lebenssituation von Trollmann und Harder und reichen zugleich weit über deren Horizont hinaus. So wird die Wirtschaftskrise in Trollmanns Heimatstadt Hannover ebenso thematisiert wie der SS-Korpsgeist, dem sich Harder verpflichtet fühlt. Auf diese Weise bietet der Band eine spannende, komplexe und – vor allem was die Umstände in den Konzentrationslagern angeht – teils schockierende Art von Geschichtsunterricht.
Und er bringt Neuigkeiten ans Licht: Repplinger fand mit Hilfe von Zeitzeugen heraus, dass Trollmann nicht, wie bisher angenommen, am 9. Februar 1943 im KZ Neuengamme ums Leben kann, sondern dort nur scheinbar für tot erklärt wurde. Demnach haben Mithäftlinge den Leichnam eines anderen Häftlings für Trollmann ausgegeben, ihn selbst für kurze Zeit versteckt und ins Außenlager Wittenberge gebracht, wo die Umstände weniger schlimm waren. Dort soll Trollmann 1944 laut Augenzeugenbericht von einem anderen Häftling hinterrücks mit einem Knüppel erschlagen worden sein.
SS-Untersturmführer Otto Harder war sich nach Kriegsende keiner Schuld bewusst, als ihn ein britisches Militärgericht am 16. Mai 1947 als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilte. Weihnachten 1951 entließ man den magenkranken Harder vorzeitig aus dem Zuchthaus Werl. 1956 starb er im Alter von 63 Jahren in Hamburg. An seinem Begräbnis nahmen zahlreiche Repräsentanten des HSV teil.
Lesung im „Froschkönig“ am 27. Januar 2009: Roger Repplinger liest aus „Leg dich, Zigeuner“. 20.30 Uhr. Weisestraße 17, 12049 Berlin-Neukölln. Eintritt: 4 Euro.
Literaturangaben:
REPPLINGER, ROGER: Leg dich, Zigeuner. Die Geschichte von Johann Trollmann und Tull Harder. Piper Verlag, München 2008. 377 S., 22,90 €.
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