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„Talmudische Debatten“

Djerassi lässt die vier großen jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts Adorno, Benjamin, Scholem und Schönberg zu Wort kommen

© Die Berliner Literaturkritik, 04.02.09

 

INSBRUCK (BLK) – Im Februar 2008 ist im Haymon Verlag das Buch „Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch. Benjamin - Adorno - Scholem - Schönberg“ von Carl Djerassi

Die Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin, der Religionshistoriker Gershom Scholem, der Komponist Arnold Schönberg: vier große jüdische Denker des 20. Jahrhunderts, vier Wege jüdischen Selbstverständnisses und vier Lebensgeschichten durch die Abgründe des 20. Jahrhunderts, in denen sich als fünfter Weg auch die Biografie von Carl Djerassi selbst spiegelt. Djerassi lässt diese vier Männer in Dialogen unmittelbar zu Wort kommen. So führt er die Leser ein in ihre Gedankengebäude und lotet aus, welche Bandbreite die Bedeutung des Wortes „Jude“, in Hinblick auf Herkunft wie auf Religion oder Politik, abdecken kann. Zugleich erlaubt Djerassi auf der Basis fundierter Recherche aber auch völlig neue Einblicke in die privaten Lebensbereiche von Benjamin, Adorno, Scholem und Schönberg und lässt sie über Freundschaften und Frauenbeziehungen, über Sexualität und Pornographie erzählen. Ein wichtiges Thema ihrer Gespräche ist auch Paul Klee, der als Prototypus des „nicht-jüdischen Juden“ und insbesondere über sein 1920 geschaffenes Werk „Angelus Novus“, mit dem Adorno und Benjamin sich intensiv beschäftigten, präsent ist.

Carl Djerassi: geboren 1923 in Wien, aufgewachsen z.T. in Bulgarien, der Heimat seines Vaters, schließlich 1938 nach Amerika übersiedelt, wo er studiert hat und sich als Naturwissenschaftler, später auch als Mäzen und Kunstsammler, einen Namen machte. Lebt heute in Kalifornien. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, mehrere populäre Bücher zum Thema, autobiographische Veröffentlichungen, Romane und Theaterstücke.

Leseprobe:

© Haymon Verlag ©

SCHOLEM: Das rabbinische Gesetz kennt 39 verschiedene Arten von Arbeit und dazu 39 Unterkategorien ... einige davon sind sogar am Sabbat gestattet.

ADORNO: Meine Arbeit ist das Schreiben.

BENJAMIN: Wovon es eindeutig mehr als 39 Kategorien gibt.

SCHOLEM: Wir sollten damit aufhören, sonst artet das Ganze noch in eine spitzfindige talmudische Debatte aus. Da somit keine orthodoxen Juden anwesend sind.

ADORNO: Mit meiner katholischen Mutter würden die mich überhaupt nicht als Jude bezeichnen.

SCHOLEM: Stimmt. Und da keiner von uns die jüdischen Speisegesetze befolgt

ADORNO: Und weiter?

SCHOLEM: Sollten wir nicht über die 613 Gebote und 39 Kategorien debattieren. Sondern lieber etwas Prosaischeres ansprechen, nämlich: Wann sieht ein Jude wie ein Jude aus?

ADORNO: Abgesehen von Klischeevorstellungen ist diese Frage ohne praktische Bedeutung. Das habe ich selber erleben und erleiden müssen. Bereits 1945 machte ich Max Horkheimer den Vorschlag, gemeinsam Fotografien führender Antisemiten zusammenzutragen, insbesondere im Hinblick auf ihre abstoßendsten oder groteskesten Gesichtszüge, um diese dann in einem Büchlein zu veröffentlichen und ihnen dort die charakteristischen Gesichtszüge bestimmter Typen von Verbrechern oder Geisteskranken gegenüberzustellen.

SCHOLEM: Und was wurde daraus?

ADORNO: Gar nichts. Es war naiv von mir, anzunehmen, wir könnten Rassemerkmale des Antisemiten ermitteln. Ich zitiere Jean-Paul Sartre nur selten zustimmend, aber es lohnt sich, immer daran zu denken, dass für ihn ein Jude ein Mosaik aus vielen Steinchen war, die man beliebig herausnehmen und zu anderen Mustern zusammenfügen kann ... dass ein Jude also kein unteilbares Ganzes ist. Aber das trifft auch auf die meisten Antisemiten zu.

SCHOLEM: (ironisch) Was Sie nicht sagen! Dann wollen wir doch mal sehen, was wir mit diesen jüdischen Steinchen anfangen können. Als Adrienne Monnier ... eine viel zu anspruchsvolle französische Schriftstellerin, um Klischees von sich zu geben ... Walter 1930 in Paris kennen lernte, behauptete sie, er sei der erste deutsche Jude, dem sie je Auge in Auge gegenübergestanden habe.

ADORNO: Und anschließend hat sie ihn beschrieben?

SCHOLEM: Ganz genau. Für sie war Walter „Jude seines intelligenten Gesichtes wegen, in dem die List des Weisen zu lesen war, und auch eine seltsame Mischung von Menschenscheu und Gutmütigkeit“.

BENJAMIN: (lachend) Das mögen zwar keine Klischees sein ... aber sie beantworten mit Sicherheit nicht deine Frage, wann ein Jude wie ein Jude aussieht.

SCHOLEM: Du nimmst das Wort „aussehen“ zu wörtlich. Aber statt eine französische Schriftstellerin zu zitieren, die noch nie einem deutschen Juden begegnet war, möchte ich anführen, was ein deutscher Jude ... und zwar Moritz Goldstein ... zu sagen hatte, als er gefragt wurde, ob Juden an ihrer äußeren Erscheinung zu erkennen seien. Als nämlich eine Horde Berliner Nazis loszog, um 1932 an Jom Kippur alle Juden auf dem Kurfürstendamm zusammenzuschlagen, so berichtet er, waren mehrere ihrer Opfer „Arier“, die anscheinend jüdisch aussahen, während viele Juden unbehelligt blieben, weil sie „arisch“ aussahen. Aber betrachten wir einmal uns vier ... wie bei einer polizeilichen Gegenüberstellung in der Nazizeit. Stellen Sie sich einfach an der Wand auf ... alle drei. (als die anderen zögern) Bitte ... mir zuliebe. (achselzuckend stellen sich Benjamin, Schönberg und Adorno nebeneinander an der Wand auf; zu Benjamin) Walter, was ist dein typischstes Merkmal?

BENJAMIN: (tätschelt seinen Bauch) Dass ich stark zugenommen habe.

ADORNO: (lachend, während er seinen Bauch tätschelt) Dass man in mittleren Jahren Speck ansetzt, ist ja wohl kein jüdisches Charakteristikum. Denken Sie nur an Görings Leibesfülle. Nennen Sie lieber etwas anderes.

BENJAMIN: Eindeutig mein Schnurrbart. Die meisten Menschen haben mich nie ohne gesehen.

SCHOLEM: Vergiss ihn. Welcher Nazi kann etwas gegen einen Schnurrbart einzuwenden haben?

BENJAMIN: Meine dicke Brille.

SCHOLEM: Nimm sie ab.

BENJAMIN: (nimmt die Brille ab) Vermutlich meine Augen.

SCHOLEM: Dann hör dir an, wie Adrienne Monnier dich beschrieb: „Die Augen lagen hinter der Brille verborgen und verborgener noch hinter den Lidern, die den stechenden Blick nur vorsichtig durchließen. Der Mund war fast gänzlich verdeckt von einem dichten Schnurrbart mit herabhängenden Enden; was aber man von diesem Mund sah, war durchaus anerkennenswert: die nicht übermäßig fleischigen Lippen waren die eines empfindsamen Epikureers. Mit einem Bart hätte Benjamin viel jüdischer ausgesehen, auch wenn die Adlernase nur mäßig ausgebildet ist.“

© Haymon Verlag ©

Literaturangaben:
DJERASSI, CARL: Vier Juden auf dem Parnass. Ein Gespräch. Benjamin - Adorno - Scholem - Schönberg. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Mit Fotokunst von Gabriele Seethaler. Haymon Verlag, Insbruck 2008. 212 S., 24,90 €.

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