Karl Schlögel hat schon 1984 „Moskau lesen“ geschrieben, eine Art von politischem Reiseführer, später über das St. Petersburg der Revolutionszeit, das bald Leningrad hieß, er hat über die Bedeutung des „Raums“ reflektiert, also das, was man Geopolitik nennt, er hat in „Marjampole“ einen riesigen russischen Bazar für gebrauchte Autos in Augenschein genommen und es scheint, als seien all diese Bücher des leidenschaftlichen Russland-Kenners nur so etwas wie eine Vorbereitung gewesen für das monumentale Werk, an dem er viele Jahre lang gearbeitet hat: „Terror und Traum: Moskau 1937“. In der russischen Hauptstadt, die einmal als das „dritte Rom“ galt, bis die Zaren ihre Hauptresidenz an die Newa verlegten, traf alles zusammen, was diese Revolution wollte. Hierhin waren die Bolschewiki zurückgekehrt, hier sollte der Kommunismus der ganzen Welt seine Überlegenheit als „Sozialismus in einem Land“ beweisen, nachdem Trotzkis „permanente Revolution“ gescheitert war, von hier sollte sie ausgehen, die Umwandlung eines von inneren Unruhen und Angriffen von außen gefährdeten, wesentlich agrarisch geprägten, riesigen Landes in ein modernes „Imperium“.
Moskau, das war das Experimentierfeld einer nachgeholten Moderne und die Zentrale jenes Terrors, der 1937 kulminierte. „Irgendwie und irgendwann führten die Linien zwangsläufig immer an den Ort und in die Zeit eines irreversiblen Bruchs in die 30er Jahre des 20.Jahrhunderts.“ In der längst unübersehbar gewordenen Literatur zur Sowjetunion (die Schlögel kennt wie kaum jemand) bildet sein neues Buch einen Markstein—und ein Gedächtnismal, das die „Mauer des Schweigens“, welche während der Nazizeit und der langen Jahrzehnte danach innerhalb und außerhalb der Sowjetunion errichtet worden war, zu schleifen unternimmt. Nicht als ob über Stalins Gewaltpolitik nichts bekannt wäre, seine immer als düstere Fama verbreiteten Taten und Untaten sind inzwischen, auch dank der zeitweisen Öffnung der russischen Archive—ohne die detaillierte Forschungen nicht möglich gewesen wären—weithin „aufgearbeitet“: man weiß viel über die „Täter“. Die Studien von Orlando Figes zum Beispiel haben auch einer breiteren Schicht von Lesern, die nicht Historiker und Ost-Spezialisten sind, Material in großer Fülle geliefert. Was dies Moskau-Buch auszeichnet, ist nicht nur der Versuch, den Stand der historischen Forschung zu referieren, im Detail Unbegreifliches und Unbekanntes aufzuklären, sondern in einer großen „Erzählung“, dem Narrativ einer Epoche zusammenzufassen, was damals vorgegangen ist— in möglichst vielen Facetten, so widersprüchlich sie auch erscheinen mögen. „Nie empfand ich die Grenzen der Erzählbarkeit von Geschichte so sehr wie bei dem Versuch, die extremen Erfahrungen von Terror und Traum in einer Geschichte der Gleichzeitigkeit zusammenzubringen. Aber vielleicht muss es einem die Sprache verschlagen haben, vielleicht muss man zuerst verstummt sein, um diese Arbeit der Vergegenwärtigung überhaupt beginnen zu können.“
Man muss sich dies Buch von über 800 Seiten (einschließlich der Anhänge: Anmerkungen und Personenverzeichnis füllen allein fast 100 davon) wirklich als Sisyphos-Arbeit vorstellen. In über vierzig, meist nicht sehr langen Kapiteln werden immer wieder neue Aspekte dessen dargestellt, was sich vor allem 1937 zugetragen hat: dem Jahr der großen Schauprozesse und der großen „Ereignisse“: beides wird von Schlögel in einem ständigen Wechsel von Perspektiven „erzählt“. Es war ein Schlüsseljahr. Am Ende waren allein im Lager Butowo 20.761 Menschen (die Todeslisten sind erhalten) durch Genickschuss umgebracht worden, im ganzen Lande waren es Hunderttausende und Millionen, die in Arbeitslagern verschwanden. Stalin, der als Schattenriss immer wieder auftaucht, hatte den „Krieg gegen das eigene Volk“ vorläufig gewonnen. Die erste Garde der Revolution war zum größten Teil ausgelöscht—unter den wahnwitzigsten Beschuldigen und auf Grund von grausigen Selbstbeschuldigungen und Geständnissen—die nach verbindlichen Vorgaben erstellten Tötungsanordnungen waren abgearbeitet, die Schimäre des „Trotzkismus“ weithin „besiegt“, all die „Doppelzüngler“, Feindagenten, Diversanten, Saboteure ausgerottet, nun sollte der „neue Mensch“ hervortreten, dem alle vorrevolutionäre Individualität ausgetrieben war, dank Panik und ständiger Angst. Denn der Terror hatte ja vor aller Augen gewütet, kaum eine Moskauer Familie war verschont geblieben, und die von der Propaganda aufgepeitschten Massen hatten dem millionenfach auf Kundgebungen zugestimmt. Hatten die großen Hungersnöte der Kollektivierungszeit (über 6 Millionen Tote) im ganzen Land die alten agrarischen Strukturen vernichtet, so waren in den Schauprozessen die „abweichenden Meinungen“ unter den „alten Genossen“ durch Mord (in scheinbar rechtsförmigen Verfahren, deren Ausgang schon vorher feststand) beseitigt worden. Das Zwangsarbeitssystem, der GULAG, hatte genügend Arbeiter rekrutiert, um die riesigen Bauvorhaben durchzuziehen, es gab keine gewerkschaftliche Opposition gegen die Sklavenarbeit bei der überstürzten Industrialisierung mehr.
Schlögel hat sich für seinen Weg durch das Inferno eines literarischen Zeugen bedient: Michail Bulgakow, in dessen Roman „Der Meister und Margarita“ das alles schon, sehr verschlüsselt, vorweggenommen wird. Er und seine Frau Jelena (mit ihrem erst sehr viel später veröffentlichen Zeugnisbuch), sind verlässliche Führer. Aber nicht nur sie. Immer wieder greift der Autor auch auf andere Zeitzeugen zurück, kontrastiert etwa die Reisebücher von André Gide und Lion Feuchwanger, zitiert aus Zeitungsartikeln (die er auf ihren Hintersinn zu interpretieren weiß) und Prozessakten, lauscht Schostakowitschs 5. Sinfonie den Schrecken ab, untersucht die Fortschritte beim „Aufbau“ und die Korruption bei vielen ihrer Protagonisten, erwähnt die enormen Erfolge bei der geografischen Prospektierung des riesigen Landes und die der Entdecker und Flugzeugpioniere. Er beschreibt die erfolgreichen Alphabetisierungs-Kampagnen und die Eingemeindung des liberalen Adligen Puschkin in den Kanon der sowjetischen Kultur, er schildert das Leben in den „Kommunalkas“, jenen Gemeindewohnungen, in denen die Menschen zusammengepfercht wurden, die die Einwohnerzahl Moskaus in wenigen Jahren so gut wie verdoppelten und die primitiven Lebensbedingungen derer, die vom Land in die neuen Fabriken strömten. In den ersten Jahren mussten die zu Industriearbeiter mutierten Bauern häufig in Erdlöchern (bei den Kanalbauten) oder unter den Werkbänken nächtigen, ehe es genügend Baracken und (sehr viel später) Plattenbauten für sie gab.
Es gibt keinen Lebensbereich, den Schlögel auslässt, ob es die neuen Parks sind oder die Kinos, die Schulen oder die Ferienaufenthalte derer, die gerade dafür an der Reihe waren. Auch das Wohlleben der Nomenklatura wird erwähnt, die auskömmlichen Wohnraum und auch sonst alle Annehmlichkeiten hatte. Er zitiert die Liste der Gegenstände, die nach der Erschießung des NKWD-Chefs Jeshow in seiner Wohnung gefunden wurden: von der luxuriösen Einrichtung und Kleidung bis zu pornografischen Bildern und Filmen. Ein eigenes Kapitel widmet er dem Altbolschewisten Bucharin, der noch im Gefängnis die Kraft hatte, mehrere literarische und theoretische Bücher von Rang zu schreiben, ehe auch er im Schauprozess „gestand“ (in einer verschlüsselten Form, die für Eingeweihte gleichwohl kenntlich blieb) und umgebracht wurde. Einzig der Prozess gegen die Militärführung und General Tuchatschewski—bei dem fast der ganze Generalstab verurteilt und umgebracht wurde, kommt nur kurz vor, offenbar fehlen da immer noch Dokumente.
Schlögel nennt immer wieder die Namen derer, die in Stalins und seiner Helfer Mordexzessen umkamen—viele kennt man auch hierzulande. Insofern ist dies Buch auch ein Denkmal für die Opfer. Er hat es nicht umsonst den tapferen Leuten von „Memorial“ gewidmet, die heute in Moskau für Gerechtigkeit streiten—unter Lebensgefahr noch immer. Für ihn sind sie die Hoffnung auf eine andere Zukunft Russlands.
Stalins Umbau der gesamten Gesellschaft war für einige Jahre „gelungen“—bis hin zu einer neuen „Verfassung“ und einem Wahlrecht, das freilich nur die Kandidatur je eines Anwärters auf einen Sitz im Parlament erlaubte, so lange etabliert, bis der „große vaterländische Krieg“ mit seinem ungeheuren Blutzoll die russische Gesellschaft gleichzeitig zusammenschweißte und weiter traumatisierte, ehe die Nachkommen sich nach Stalins Tod zunächst einer langen Stagnationszeit und dann einer wie immer verschleierten, „gemilderten“ neuen Diktatur fügten. Die von Jelzin ausgerufene Demokratie war nur ein kurzes Zwischenspiel. Der Traum von der Größe mag zwar fürs erste gescheitert sein, aber die neuen Herrn im Kreml scheinen ihn weiterträumen zu wollen. Allenfalls mit weniger Terror.
Es ist Schlögel gelungen, am Beispiel eines Ortes, Moskau, alle Widersprüche und Probleme der sich bildenden Sowjetgesellschaft gebündelt darzustellen und dabei den Opfern den ihnen gebührenden Platz zu geben. Was viele Historiker herausgefunden haben, kann man bei ihm (bei sorgfältiger Aufbereitung der Quellen) „sehen“—in einem oft großartigen „Bild“ an die Wand der Geschichte geworfen. Und dies ist die Voraussetzung dafür, es in seiner Tragweite selbst dann zu begreifen, wenn man es als Abfolge von Greueltaten zu verstehen sich weigert. Die Rationalität von Stalins „Traum“ hat in mörderische Irrationalität geführt.
Dies „erzählt“ zu haben, ist eine bewunderungswürdige Leistung.
Von Roland H. Wiegenstein
Literaturangabe:
SCHLÖGEL, KARL: Terror und Traum: Moskau 1937. Carl Hanser Verlag, München 2009. 812 S., geb., 29,90 €.
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