ZÜRICH (BLK) – Im Juni 2011 erschien bei Manesse „Die Party bei den Jacks“ von Thomas Wolfe. Übersetzt hat Susanne Höbel. Mit einem Nachwort von Kurt Darsow.
Klappentext: Dieses erstmals ins Deutsche übersetzte Prosajuwel führt uns empor in die höchsten Sphären von Manhattan – mitten hinein in die Glamourwelt der Schönen und Reichen. Starlets und Damen von Welt, Broker und Magnaten, Privatiers und Parvenüs geben sich auf einer Penthouse-Party die Ehre. In stakkatohaften Sequenzen fängt Thomas Wolfe den Rhythmus einer rastlosen Metropole ein, in der der Tanz ums goldene Kalb immer ausgelassenere Formen annimmt. Alles, was Rang und Namen hat, findet sich im Art-déco-Ambiente von Esther und Frederick Jack ein: sie eine gefeierte Broadway-Künstlerin, er ein aus Koblenz stammender Jude und Selfmade-Millionär. Die Roaring Twenties sind auf ihrem Höhepunkt angelangt, schon wirft die Große Depression ihre Schatten voraus. Doch vom drohenden Ende der Sause will man bei den Jacks noch lange nichts wissen … Mit seiner Innenansicht einer New Yorker Luxusadresse – von der Dachterrasse bis hinab in den Untergrund, von wo die Subway feine Vibrationen durchs Gebäude schickt – zeichnet Wolfe das Panoptikum einer faszinierenden Stadt und einer faszinierenden Epoche.
Thomas Wolfe wurde 1900 in North Carolina geboren und war ein amerikanischer Schriftsteller mit irisch-schottischen sowie deutschen Wurzeln. Nach einigen versuchen als Schauspieler, Dramaturg und Collegeprofessor widmete er sich hauptsächlich der Schriftstellerei. 1938 verstarb er an Tuberkulose. Seit Weit- und Scharfblick wurde unter anderem von Hermann Hesse bewundert.
Leseprobe:
©Manesse©
AM MORGEN
„Hartmann!“
„Hier, Herr Professor.“
„Das Wort für ‘Garten’.“
„Hortus, Herr Professor.“
„Deklination?“
„Zweite.“
„Geschlecht?“
„Maskulinum, Herr Professor.“
„Deklinieren!“*
Hartmann straffte kaum merklich die Schultern, atmete tief ein und sagte, mit verstocktem Ausdruck vor sich hin starrend, in monotonem Singsang: „Hortus, horti, horto, hortum, horte, horto; horti, hortorum, hortis, hortos, horti, hortis.“
„So. Setzen, Hartmann.“*
Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Vielen Dank!
Hartmann setzte sich und stieß die Luft seitwärts zwischen den dicken Lippen hervor. Einen Moment lang verharrte er in steifer Pose, dann entspannte er sich, blieb aber wachsam und warf seinen Klassenkameraden aus kleinen, listig hin und her springenden Augen verstohlene Blicke des Triumphs und der Genugtuung zu. Seinem Alter nach war er ein Kind, aber seine Gliedmaßen und Gesichtszüge ließen in verkleinerter Form schon das Aussehen des erwachsenen Mannes erahnen. Anscheinend war er niemals jugendlich oder kindlich gewesen: Sein Gesicht war grobschlächtig, fahl, farblos: Die Haut wirkte dick und grobporig wie die eines Mannes und war unansehnlich von einem dichten weißen Flaum überzogen, den man erst aus der Nähe sah. Er hatte kleine gerötete, wässrige Augen, und seine Wimpern und Augenbrauen waren von der gleichen dünnen, unansehnlich weißen Beschaffenheit wie der Flaum auf seinem Gesicht. Seine Züge waren flach, stumpf und grob: Die flache, nach oben weisende Nase hatte eine abgeplattete Spitze, so dass die Nasenlöcher gebläht wirkten, der Mund war derb, konturlos, unbestimmt, und auch die Wangenknochen hatten ein stumpfes, abgeflachtes Aussehen.
Hartmanns Schädel war geschoren und gleichmäßig von bläulichen Stoppeln bedeckt, die Kopfform hässlich, grotesk und irgendwie abstoßend: Vom Scheitel verlief die Schädeldecke schräg nach vorn und verjüngte sich nach unten zu einer schmalen Stirn. Schließlich sein Körper: Er war dünn und sehnig, dabei ungeheuer zäh, und die überproportional großen geröteten Hände hingen klobig und ungeschlacht seitlich am Körper herab. Brutal von Geist wie Gestalt, hatte er weder äußerlich noch in seinem Wesen irgendetwas Anziehendes, und Frederick verabscheute ihn zutiefst. Diesen Abscheu erwiderte Hartmann aus vollem Herzen.
„Jack!“
Frederick hörte das im harschen Befehlston gesprochene Wort nicht. Seine dunklen Augen blickten versonnen ins Leere, seine Gedanken waren Lichtjahre entfernt, sein Geist schweifte in unendlichen Weiten, hinweg über die blaue Brandung, über den unermesslichen, schimmernd blinkenden Ozean, der alle Küsten der Welt umspülte. Und ein heller Wasserlauf führte ihn unmittelbar zum Ziel seiner Träume. An Deck der sauberen weißen Flussdampfer fuhr er rheinabwärts, von Koblenz nach Bonn, von Bonn nach Köln, von Köln nach Düsseldorf, weiter durch Holland und bis zum Meer. Dann stach er auf einem anderen, viel gewaltigeren Schiff in See. Das Meer schimmerte blau, aber auch Gold tanzte darauf, niemals war es grau. Das mächtige Schiff gischtete und hob sich tänzelnd mit herrschaftlicher Würde, wie ein Pferd; er spürte die Dünung, das unendliche Auf und Ab der Wellen unter dem schäumenden Kiel, während das große Schiff voranstampfte, Tag für Tag, in Richtung Westen.
Und dann, nach vielen Tagen, sah Frederick geradewegs vor sich erste Vorposten des Festlands. Er roch das wackere, vertraute Aroma des Landes, den Spermageruch von Seetang und die Wärme der Erde, und er sah vor sich erste Sandbänke, eine flache Küste, dahinter mattes Grün, kleine Städte und Häuserzeilen. Jetzt passierte das Schiff die enge Einfahrt zum Hafen, und Frederick sah vor sich den großen Hafen mit dem Gewimmel von Tausenden Schiffen. Und er sah vor sich, auf Höhe des Hafens, eine märchenhafte Stadt, erbaut auf einer Insel. Sie schwebte auf einer schillernden Wolke, aus der sie herauszuwachsen schien und von der sie emporgehoben wurde, magisch wie eine Vision, dabei ganz und gar wirklich und fest umrissen, so fest wie der Fels, auf dem sie errichtet war. Und nahe der Stadt floss ein Fluss – „ein Fluss viel schöner als der Rhein“* – eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und doch musste es so sein, denn Onkel Max hatte den Fluss gesehen und erst am Vorabend geschworen, dass es so sei. Jenseits der Stadt erstreckte sich ein unermesslich weites, fruchtbares und verwunschenes Land – „ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten“*, hatte Onkel Max behauptet, und Onkel Max musste es wissen, denn er war aus jenem Land zurückgekehrt und sprach mit dessen seltsam näselnden Akzent, trug dessen seltsame Kleidung, war reich geworden von den Gewinnen aus dessen unermesslichen Schätzen. Und er hatte gesagt, dass er eines Tages kommen und Frederick nachholen werde, und Frederick träumte von dem Reichtum, dem Gold, dem Ruhm und der Magie dieser fernen, schimmernden Stadt, die von ihrer Nebelwolke aus emporschwebte, und er hoffte darauf mehr als auf alles andere in der Welt.
„Jack! Jack! Ist Friedrich Jack hier?“*
Völlig verdattert schreckte er hoch, als die harsche, cholerische Stimme in seinen Tagtraum einbrach, und die Schüler, die ihre Aufmerksamkeit ein paar Sekunden auf sein verträumtes Gesicht gerichtet hatten, brachen jetzt in wildes, jähes Gejohle aus, als er sich hastig erhob, die Schultern straffte und verwirrt stammelte:
„Hier, bitte. Ja. Ich bin hier.“*
Das hagere, hassenswerte Gesicht, haarlos, einem Totenschädel gleich, mit runzliger, dürrer Pergamenthaut, die eine Wange hässlich entstellt von einem Geflecht grellroter Mensurwunden, die dünnen, zuckenden Lippen über einer Reihe großer gelber Zähne zurückgezogen, sah ihn jetzt über den Brillenrand hinweg mit kaltem Ingrimm an. Im nächsten Moment spannten sich die vorstehenden Halssehnen grässlich über dem steifen Kragen, und die heisere Stimme bebte vor Zorn, als sich Kugels stocksteife Gestalt in der rabenschwarzen Montur eines Gehrocks mit ironischer Höflichkeit vor ihm verneigte.
„Wenn Sie fertig sind, Exzellenz“*, sagte er.
„Ja … ja … fertig“*, stammelte Frederick dümmlich und sinnlos und fragte sich verzweifelt, was die Frage sein mochte und ob sie schon gestellt worden war. Die Schüler feixten erwartungsvoll, und Frederick, ohnehin schon ganz fahrig vor Schreck und Verwirrung, platzte heraus, ohne zu wissen, was er da sagte: „Ich meine … ich bin fertig … Onkel!“*
Eine schauerliche Welle von Scham und Schande rollte über ihn hinweg, kaum dass er das Wort ausgesprochen hatte und das Losprusten der Klasse ihm seinen schrecklichen Patzer bewusst machte. Onkel!* Das würden sie ihn nie vergessen lassen! Wie hatte er nur so dumm sein und selbst in einem Augenblick der Geistesabwesenheit diesen grausamen, hässlichen alten Affen für die noble, heldenhafte Gestalt seines Onkels Max halten können? Tränen der Scham stiegen ihm in die Augen, sinnlos stammelte er Entschuldigungen und Erklärungen, die in dem wilden Gegröle der Klasse untergingen; am liebsten hätte er sich vor Zorn und Scham die Zunge ausgerissen.
Und Kugel – der stand versteinert da und starrte fassungslos vor sich hin wie jemand, den gerade der Schlag getroffen hat. Im nächsten Moment, als er seine Stimme wiedergefunden hatte, griff er, hin- und hergerissen in seiner Wut auf die brüllende Klasse und auf den vorlauten Schüler, der zitternd vor ihm stand, nach einem schweren Buch, hob es mit seinen dürren, fleckigen Händen über den Kopf und knallte es mit entsetzlicher Wucht auf den Tisch. „Schweig!“, brüllte er. „Schweigen Sie!“*, ein unnötiger Befehl, da sich sofort eine betretene, duckmäuserische Stille auf die Klasse herabsenkte.
Er wollte sprechen, fand aber die Worte nicht, nach denen er suchte. Dann zeigte er mit dürrem, zittrigem Finger auf Frederick und sagte in ersticktem Flüsterton: „Das Wort – das Wort – für ‚Bauer’.“* Ruckartig reckte er den Hals über dem Kragen, so als würde er gewürgt.
Frederick schluckte, öffnete den Mund und sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an.
„Was?“*, schrie Kugel und machte einen Schritt auf ihn zu.
„Ag-ag-ag!“, stotterte Frederick erbärmlich wie ein Idiot.
„Was?“*
Eben noch hatte er das Wort gewusst – er wusste es auch jetzt noch, er versuchte krampfhaft, es sich in Erinnerung zu rufen, doch inzwischen waren Angst und Scham und Verwirrung so groß, dass er das Wort nicht über die Lippen gebracht hätte, selbst wenn er es auf einem Stück Papier schwarz auf weiß vor sich gehabt hätte.
Verzweifelt machte er einen neuerlichen Versuch.
„Ag-ag-ag“, aber als er das in der Klasse sich ausbreitende Kichern hörte, gab er hilflos auf, ganz durcheinander und außerstande weiterzusprechen. Kugel fixierte ihn über die Ränder seiner dicken Brille hinweg, seine gelblichen glupschigen Augäpfel voller Hass und Verachtung starr auf ihn gerichtet.
„Ag-ag-ag“, höhnte er in hassenswerter Nachäffung. „Erst war es der Onkel – und jetzt muss er einen Schluckauf haben!“*
Einen kurzen Moment noch betrachtete er Frederick mit kaltem Hass, dann ließ er von ihm ab. „Schafskopf! Setzen!“*, sagte er.
Frederick setzte sich.
* Kursivierung mit Asterisk im Original deutsch (so auch im Folgenden).
* * *
Am gleichen Tag, als die Knaben aus der Schule kamen, hörte Frederick hinter sich schwere Schritte und eine Stimme, die ihm etwas hinterherrief, Befehl und Warnung zugleich, grob, ruppig, heiser. Er wusste, es war Albert Hartmann, und er blieb nicht stehen. Er beschleunigte seine Schritte ein wenig und ging unbeirrt weiter.
Hartmann rief abermals, dieses Mal mit drohendem Unterton.
„He – Jack!“
Frederick hielt nicht an.
„Exzellenz! Onkel!“*, rief die Stimme höhnend. „Ag-ag! Schafskopf!*“
Beim letzten Wort blieb Frederick, das Gesicht vor Wut rot angelaufen, abrupt stehen und drehte sich um. Er war von kleiner, adretter Gestalt, ein gepflegter Junge mit rundlichem Gesicht, glattem schwarzem Haar und den dunklen, feuchten Augen seiner Rasse. Seine fülligen Wangen hatten eine rosige Frische, seine blaue Jacke und die Schülermütze waren von viel besserer Machart und Qualität als die Albert Hartmanns, die aus billigem Material und schlecht gearbeitet waren, und in seinen rundlichen Zügen lag etwas von Weltgewandtheit und hochmütiger Selbstgewissheit, ein Sinn für materielle Werte, wie ihn Kinder wohlhabender Kaufleute oftmals entwickeln.
Hartmann trottete heran und atmete dabei laut schnaufend durch die Winkel seines derben, hässlichen Mundes. Er packte Frederick grob beim Ärmel und sagte: „Na, Ag-ag, glaubst du, das nächste Mal weißt du das Wort? Hast du deine Lektion gelernt? Ja?“
Frederick befreite seinen Ärmel aus Hartmanns Griff und musterte den Jungen kalt. Er antwortete ihm nicht.
In dem Moment stieß Walter Grauschmidt, ein anderer Junge aus der Klasse, zu ihnen. Albert Hartmann wandte sich ihm zu und sagte: „Ich habe Ag-ag hier gefragt, ob er das nächste Mal, wenn Kugel ihn fragt, das Wort für ‘Bauer’ weiß“, sagte er.
„Nein. Das Wort für ‘Bauer’ wird er niemals wissen“, sagte Walter Grauschmidt gelassen und selbstsicher. „Aber das Wort für ‚Geld’, das wird er wissen. Das Wort für ‚Gewinn’ auch. Er wird die Wörter für ‚Zinsen’ und ‚Darlehen’ in jeder Sprache der Welt kennen. Aber das Wort für ‚Bauer’ wird er niemals wissen.“
„Wieso?“, fragte Albert Hartmann und sah seinen Kameraden, der klüger und intelligenter war als er, mit dümmlichem Blick an.
„Wieso?“, sagte Walter Grauschmidt bedächtig. „Weil er Jude ist, deshalb. Ein Bauer muss schwer mit den Händen arbeiten. Und einen Juden, der schwer mit den Händen arbeitet, wenn er es irgend vermeiden könnte, hat es noch nie gegeben. Der lässt andere diese Art von Arbeit machen, und derweil setzt er sich hin und streicht das Geld ein. Sie sind eine Rasse von Pfandleihern und Kreditgebern. Das hat mir mein Vater erklärt.“ Er sah Frederick an und sagte leise und in beleidigendem Ton: „Stimmt doch, oder? Das leugnest du nicht, oder?“
„Ja! Ja!“*, rief Albert Hartmann aufgeregt, jetzt da er die Begriffe und Begründungen hatte, auf die er von selbst nicht gekommen war. „Das stimmt! So ist es! Ein Jude! Du bist Jude!“, sagte er aufgeregt zu Frederick. „Du hast noch nie im Leben mit den Händen gearbeitet! Du würdest einen Bauern gar nicht erkennen, selbst wenn er vor dir stünde.“
Frederick sah die beiden mit stiller Verachtung an. Dann wandte er sich ab und ging weiter.
„Ja! Pfandleiher! Deine Leute sind den anderen voraus, weil sie die Menschen um ihr Geld betrügen! Ja!“
Die heiseren, plumpen Sticheleien verfolgten ihn, bis er in die Straße einbog, in der er wohnte. Es war eine schmale Straße mit Kopfsteinpflaster, in der alte Giebelhäuser standen, von denen manche mit ihrem mittelalterlichen Überhang dermaßen weit über die Straße ragten, dass sie sich fast berührten. Aber die Straße war immer makellos sauber. Die Häuser waren in hellen freundlichen Farben gestrichen, und vor den kleinen Ladengeschäften hingen uralte verblichene Schilder. Das alte holprige Kopfsteinpflaster war sauber gefegt, die alten Häuser waren makellos. Steine und Messingbeschläge schienen ständig geputzt und poliert zu werden, die Fensterscheiben blitzten wie blank gewienerte Spiegel, und die Gardinen in den Fenstern waren immer gestärkt, sahen frisch und schmuck aus. Im Frühling und im Sommer prangten auf den Fensterbänken leuchtende Geranien in Blumenkästen.
In einem der alten vierstöckigen Häuser auf halbem Weg die Straße entlang lebte Frederick mit seiner Mutter, einer Schwester, seinem Onkel und seiner Tante. Sein Vater war einige Jahre zuvor gestorben und hatte seiner Familie ein einigermaßen komfortables, wenn auch kein sehr großes Erbe hinterlassen. Und jetzt führte sein
Onkel das Familienunternehmen weiter.
Sie besaßen eine Privatbank, und ihr Name war seit jeher ein wohlgeachteter gewesen. Von Fredericks Großvater vor über sechzig Jahren gegründet, hatte die Firma ihre Geschäfte von Koblenz aus betrieben. Und man war, ohne je ein Wort darüber zu verlieren, immer davon ausgegangen, dass Frederick ebenfalls in die Firma eintreten würde, sowie er mit der Schule fertig wäre.
Frederick ging die hübsche alte Straße entlang, bis er zu dem Haus kam, in dem er lebte. Seit achtzig Jahren wohnte seine Familie in dem Haus. Sein Zimmer lag ganz oben im Dachgeschoss. Es war ein Giebelzimmer unter dem First, und nachts konnte er, bevor er einschlief, die Stimmen der Menschen auf der Straße hören, manchmal das plötzliche Auflachen einer Frau, manchmal nur Schritte, die näher kamen, vorübergingen und mit einem einsamen Echoklang verhallten.
Die Straße mündete in eine breite, von Bäumen beschattete Promenade, die rechtwinklig dazu verlief und eine der Hauptverkehrsachsen durch die Stadt war.
Jenseits davon floss der Rhein.
AM MORGEN
MR JACK SCHLAFEND
Jack meinte, wieder zu Hause zu sein, zu Besuch bei seiner Familie. Obwohl sein Onkel seit zwanzig Jahren tot war und seine Tante seit zwölf, und obwohl seine Schwester inzwischen eine ältere verheiratete Frau mit erwachsenen Kindern war und in Frankfurt lebte und seine Mutter eine alte Frau von über siebzig, kam es Jack so vor, als lebten sie alle in dem alten Haus in der Weinfassgasse und niemand von ihnen wäre älter geworden. Er selbst war ein adretter, gepflegter, grauhaariger Herr, aber niemandem schien das aufzufallen. Alle behandelten sie ihn, als wäre er ein Kind und nicht vierzig Jahre, sondern bloß vierzig Tage von zu Hause fortgewesen.
Doch seit er wieder unter ihnen weilte, wurde er Tag und Nacht von unerträglichen Angst- und Mitleidsgefühlen verfolgt. Nichts um ihn herum schien sich nur im Mindesten verändert zu haben. Das alte Haus in der Weinfassgasse sah genauso aus wie damals, und sobald er eins der Zimmer betrat, fand er es auf einen Schlag wieder in seine frühere Daseinsform zurückversetzt, und er erinnerte sich genau, wo auch der kleinste Gegenstand darin gestanden hatte, sogar die Stelle in einer alten hölzernen Uhr, wo der Schlüssel für das Uhrwerk aufbewahrt wurde, kannte er noch, obwohl er an all diese Dinge seit Jahren nicht gedacht hatte. Und das schwere, bedächtige Ticken der alten Uhr in dem stillen Zimmer weckte plötzlich mit seinem einzigartigen, immergleichen Schlag der Zeit die Erinnerung an Tausende von Winterabenden, als er unter dem warmen Licht der Tischlampe über sein Buch gebeugt gesessen und gespürt hatte, wie die Zeit um ihn herum langsam verstrich, die graue Asche ihres langsamen, unerträglichen Feuers.
Diese Bilder aus der Vergangenheit stiegen sofort wieder in ihm auf und erfüllten ihn mit Mattigkeit und Entsetzen. Alles war so vertraut wie an dem Tag, als er abgereist war, und doch war es fremdartiger als jeder Traum. Er war zu allem, was er gekannt hatte und was Teil von ihm gewesen war, zurückgekehrt, doch schien es nicht mehr Teil von ihm zu sein. Es schien ihm unfassbar, dass es jemals Teil von ihm gewesen war, und die Vertrautheit allein erfüllte seine Seele mit Schrecken und Ungläubigkeit. Und derselbe Zweifel, derselbe Schrecken ließen sein Herz erschaudern, wenn er an all die Jahre seit seiner Kindheit dachte, die er in Amerika gelebt hatte, und an das Leben, das er dort geführt hatte. Das alte Leben seiner Jugend hatte unmittelbar Besitz von ihm ergriffen, mit all seinen Schrecken der Fremdheit und Vertrautheit, und jetzt schien es ihm unvorstellbar, dass er jemals fortgewesen war.
Dann dachte Jack, er sei in der kleinen Kammer seiner Kindheit zu Bett gegangen und habe geträumt, dass er nach Amerika gereist sei und dass sein ganzes Leben dort nichts als ein Traum gewesen sei. Er dachte, er sei im Morgengrauen aufgewacht und habe das Rumpeln eines Karrens auf dem Kopfsteinpflaster der engen Straße gehört und einen Moment lang gedacht, er sei in New York. Dann brach ihm vor Entsetzen der Schweiß aus, denn es schien ihm, dass er zu nichts von dem, was er kannte, gehörte und dass er nie wissen würde, ob sein Leben Traum oder Wirklichkeit gewesen war, ob er je ein Zuhause gehabt oder sich auf die Überfahrt begeben hatte. Und es schien ihm, dass er in alle Ewigkeit dazu verdammt war, als Reisender fortwährend auf einem dunklen geisterhaften Schiff, das nie seinen Hafen erreichte, über die stürmischen Fluten des unermesslichen, stetig sich wandelnden Ozeans der Zeit getragen zu werden, in alle Ewigkeit verfolgt von Träumen von Häusern und Städten, die er nie gesehen hatte. Blankes Entsetzen ergriff ihn. Die Schlange der Trostlosigkeit fraß an seinem Herzen.
Bei all dem kam es Jack so vor, als ob seine Familie nichts Merkwürdiges an seiner Erscheinung und seinem Auftreten fände. Er war zu ihnen zurückgekehrt, aber für sie war er immer noch ein Junge von siebzehn Jahren. Er blickte in den Spiegel in seinem kleinen Zimmer und sah das graue Haar und in seinen Zügen die Lebensspuren eines Mannes von über fünfzig. Das war der Mann, wie er ihn kannte und hier vor sich sah, aber seine Mutter, seine Tante und sein Onkel, seine Schwester, sein Vetter Karl und Anna, die Magd, sahen überhaupt keine Veränderung in ihm. Und so, wie sich in der Straße und im Haus nicht das Geringste verändert hatte, so wirkten auch alle Menschen so jung wie damals, als er siebzehn gewesen war. Überdies stellte er fest, wenn er mit ihnen sprechen wollte, dass er seine deutsche Muttersprache vergessen hatte. Er verstand jedes Wort, das sie zu ihm sagten, aber wenn er zu antworten versuchte, kam ihm ein harsches, seltsam unartikuliertes Kauderwelsch über die Lippen, das sein Herz mit Scham und Entsetzen füllte. Doch sie schienen genau zu wissen, was er sagen wollte, und antworteten ihm ohne Befremden.
Wenn er allein war und die Angst sich kriechend mit Giftzähnen an seinem Herzen nährte, versuchte er, bei sich Englisch zu sprechen, aber die Wörter kamen gleichsam eingerostet mit einem kehligen, fremdländischen Akzent heraus, sie klangen ihm befremdlich und ungewohnt in den Ohren und waren anderen, so glaubte er, gänzlich unverständlich. Ihm war, als sei er sprachlos und heimatlos, eine Phantomgestalt, als gehöre er nirgendwo dazu, könne sich keiner Sache mehr sicher sein, und sein ganzes Leben sei womöglich nichts weiter als ein flüchtiges Bild im Traum der Zeit.
Jack dachte, er sei nur für einen kurzen Besuch zu seiner Familie zurückgekehrt, doch schon im Moment seiner Rückkehr war er bis in die Wurzeln seiner Seele von Entsetzen und Verzweiflung erfüllt, wie auch von dem Wunsch, so schnell wie möglich zu fliehen. Aber – fliehen wohin? Seines Lebens in Amerika war er sich nicht mehr sicher, oder ob er überhaupt jemals da gewesen war, und der Gedanke an seine Rückkehr dorthin erfüllte ihn mit demselben Zweifel und Entsetzen und derselben Verwirrung. Und die Menschen in seiner Familie behandelten ihn, als wäre er für immer zu ihnen zurückgekehrt, als wäre er noch ein Kind. Sie überschütteten ihn mit Zärtlichkeit und Zuneigung, wie Menschen sie einem geliebten Kind bezeigen, das nach langer Reise zurückkehrt, und ihre fortwährende Freundlichkeit, ihre unablässigen Bemühungen, ihn zu zerstreuen, zu unterhalten und ihm Freude zu bereiten, schnürten ihm die Luft ab, so heftig war seine Erbitterung und Schmach, so unsäglich und herzzerreißend zugleich sein Mitleid. Ihre eifrige Aufmerksamkeit, ihre ständige Fürsorglichkeit, ihre heitere Gewissheit, dass die kindlichen Vergnügungen, die sie für ihn vorbereitet hatten, genau die waren, die ihn in Entzücken versetzen würden, reizten seine Nerven bis zu unbändiger Raserei. Hitzige, zornige Worte kamen ihm auf die Zunge, Worte schroffer Zurückweisung und verärgerter Beschwörung, man möge ihn doch bitte eine Stunde lang in Frieden lassen, indes sowie er sie aussprechen wollte, vermochte er es nicht. Diese Menschen glichen in ihrer eifrigen Treuherzigkeit selbst Kindern, und ihre zärtliche Liebe, ihre kläglichen Vorhaben mit scharfzüngigen Zornesworten zu erwidern wäre so, als wollte man die Liebe von Kindern mit Schlägen vergelten.
Dennoch, ihre wohlmeinende Freundlichkeit war zum Wahnsinnigwerden. Bei seiner Ankunft hatten sie darauf bestanden, gemeinsam mit ihm keuchend die Stufen zu seiner Kammer zu erklimmen. Die kleine Giebelkammer, in der er als Kind geschlafen hatte, war für ihn hergerichtet worden, aber jetzt schien sie winzig und beengt. Das Bett, in dem er als Junge geschlafen hatte, war straff bezogen mit reinen, groben Betttüchern und Kissenbezügen aus Leinen, und darauf lag das dicke gelbe Plumeau, unter dem er als Kind warm und behaglich gelegen hatte, das aber jetzt nur seine Füße und Beine wärmen würde, während seine Schultern vor Kälte erstarrten, oder aber es würde seinen Rücken und Hals bedecken, während ihm die Füße abfroren. Er fragte sich, wie er je in ein solches Bett passen oder auf den beiden dicken, steinharten Matratzen Ruhe finden sollte, oder auch, wie er sich in der winzigen Schüssel mit dem kleinen Krug, die ordentlich auf dem Waschtisch aus seiner Pennälerzeit standen, waschen und an dem Handtuchzipfel abtrocknen sollte und wie er sich tief genug bücken sollte, um sich in dem kleinen Viereck eines Spiegels zu rasieren, auf dessen fleckiger Oberfläche sein Gesicht mit quecksilbriger Unbeständigkeit verschwamm, anschwoll oder zusammenschrumpfte.
Aber alle standen sie um ihn herum und strahlten und zwinkerten sich gegenseitig erfreut zu, als müsste sein Herz angesichts all dieser luxuriösen Dinge schier zerbersten vor sprachlosem Entzücken. Anna – die große Anna*, die Magd, die seitdem er denken konnte in der Familie arbeitete, watschelte schwerfällig zum Bett hinüber und drückte ihre steifen Finger ein gutes Dutzend Mal in die Matratze, drehte sich dann triumphierend zu ihm um, als wollte sie sagen: „Na, wie finden Sie das?“
Dann hatten Anna und seine Mutter ihn gedrängt, sich auf das Bett zu setzen und probehalber darauf zu federn, während die anderen um ihn herumstanden und bewundernd zusahen. Gehorsam hatte er ihnen den Gefallen getan, doch als er da wie ein Idiot auf- und abfederte, war sein Blick direkt auf den Spiegel gefallen, von wo sein Bild in diesem albernen Gehopse zurückgeworfen wurde. Er sah sein Gesicht, das wohlgenährte, gerötete Gesicht eines gepflegten Mannes von vierundfünfzig Jahren, den grauen Schnurrbart, sauber gestutzt und an den gewachsten Spitzen aufgezwirbelt, das kurze graue Haar mit dem akkuraten Mittelscheitel, die geraden, breiten Schultern, die in einem Jackett von tadellosem Sitz vorteilhaft zur Geltung kamen, den steifen Kragen im typischen Stil eines Geschäftsmannes und das kostbare matte Material seines Halstuchs, die weiße Nelke im Knopfloch. Es war das Bild eines Mannes von Ansehen und Würde, das er jetzt durch ein einfältiges, anzügliches Grinsen entstellt wie schwachsinnig auf dem Bett auf- und niederhüpfen sah. Es war unerträglich, unerträglich, und plötzlich rang Jack, sprachlos vor Wut, nach Luft.
Doch die anderen standen mit glänzenden Augen und offenen Mündern verzückt um ihn herum, und Anna sagte vor Zufriedenheit frohlockend: „Ach, ich kann Ihnen sagen! Ist doch gut, wieder das eigene Bett zu haben, nicht wahr, lieber Herr Freddy*? Ich kann mir vorstellen, Sie haben viele Male daran gedacht, während Sie fort waren. Na? Dacht ich mir’s doch!“, sagte die törichte Alte triumphierend, obwohl er noch gar nichts gesagt hatte. „Unter all den Fremden schlafen“, rief die einfältige Frau voller Verachtung, „in Betten, wo man nicht weiß, wer die Nacht davor drin geschlafen hat! Stimmt doch, lieber Herr Freddy“, fuhr sie in anbiederndem Tonfall fort, „zu Hause ist es doch am besten, nicht wahr?“ Sie stupste ihn kräftig mit ihren dicken roten Fingern und lachte verschmitzt.
Jack starrte sie mit einem Ausdruck aufbrausenden Entsetzens an. Das, das, großer Gott, einem Mann, der ausgezogen war, die Welt zu erobern, und der allen Luxus und Reichtum, den es auf der Welt gab, kennengelernt hatte. Das einem Mann, der auf seinen Reisen nur in den besten Hotels abstieg, dessen Zimmer zu Hause zwanzig Mal zwanzig Fuß maß – ja, wahrhaftig, zwanzig mal zwanzig Fuß, in einer Stadt, wo jeder Quadratzoll Boden in purem Gold aufgewogen wurde.
©Manesse©
Literaturangabe:
WOLFE, THOMAS: Die Party bei den Jacks. Manesse Verlag, Zürich 2011. 352 S., 24,95 €.
Weblink