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Stadtführung ins „Niemandsland“

Zum Projekt des holländischen Regisseurs Dries Verhoeven

© Die Berliner Literaturkritik, 12.06.09

Von Christina Sticht

HANNOVER (BLK) — Schon in der Anfangsszene spüren die 20 Zuschauer die freudige Erwartung, aber auch das Unbehagen bei der Ankunft in der Fremde. Mit Kopfhörern auf den Ohren und einem Namensschild in den Händen stehen sie aufgereiht in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs Hannover. Von den vorbeieilenden Passanten kommen musternde Blicke. Erleichtert folgt deshalb einer nach dem anderen seinem Guide. Jeder Wartende wird mit einem freundlichen Nicken abgeholt. Endlich geht die Reise ins „Niemandsland“ los. Mit dem ungewöhnlichen Theaterprojekt will Regisseur Dries Verhoeven Zuwanderer aus Hannover und Einheimische zusammenbringen.

„Es ist aber kein soziales Projekt, und ich bin auch kein Sozialarbeiter“, betont der 33-jährige Niederländer vor der deutschen Erstaufführung beim internationalen Festival „Theaterformen“ am Donnerstag. Verhoeven schafft eine eigene faszinierende Kunstform, er variiert das altbekannte Spiel von Nähe und Distanz. Über Kopfhörer erzählt ein professioneller Sprecher eine verdichtete Geschichte, die Elemente aus dem Leben aller Reiseführer enthält: Es geht um abschätzige Blicke auf der Straße, um Vorurteile, um Folter und Vergewaltigung vor der Flucht und um die oft vergebliche Suche nach Glück in der neuen Heimat.

Die Guides aus acht Nationen, die bis zum 21. Juni in Hannover dreimal täglich ins „Niemandsland“ entführen, sind ausnahmslos Laiendarsteller und wurden in örtlichen Kulturvereinen oder Moscheen gefunden. Verhoeven wusste sie zu begeistern, viele haben sich eigens Urlaub für das Projekt genommen.

Es ist eine vorsichtige Annäherung, die viele Möglichkeiten einschließt: Der Zuschauer wird direkt angesprochen: „Dass ich im Knast ein besseres Leben hatte, könnte ich sagen ... dass ich anderthalb Jahre auf der Flucht war, aber seit 22 Jahren Flüchtling“. Die meiste Zeit sieht der Inszenierungsbesucher den Rücken seines Guides, der schnellen Schrittes vorangeht. Manchmal dreht der sich um, und man steht voreinander, schaut sich tief in die Augen. Der Zuschauer rätselt, welches Schicksal sich hinter dem Gesicht des langhaarigen Mannes mit dem Schnauzbart und Goldschmuck verbirgt, von dem man nur den Namen erfahren hat: Balthasar.

Die zunehmenden Spannungen zwischen Zuwanderern und Einheimischen im einst toleranten Amsterdam haben Verhoeven, der als großes Talent gilt, zu dem Stück inspiriert. „Seit einigen Jahren ist es salonfähig, negative Gedanken über Migranten zu haben“, sagt er. Gleichzeitig beobachtet der Holländer seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in seiner Heimat einen Rückzug der Migranten in eine Art Niemandsland. „Ihr Körper ist hier, aber ihre Seele nicht.“

Diese körperliche Anwesenheit erfährt der Zuschauer eindrucksvoll, die Guides bewegen sich zur Musik auf den Kopfhörern, dirigieren ein Streichorchester oder wippen im Takt, aber sie sprechen nicht. Nach fast einer Stunde möchte man endlich mehr erfahren über den eigenen Reiseführer, zumal die Stimme im Kopfhörer von den Möglichkeiten einer echten Begegnung spricht: „Ich könnte dich zu mir nach Hause einladen...“ Doch dann endet das Stück mit einer berührenden Szene auf einem surrealen Platz im Nirgendwo zwischen Supermarkt und Reifenfabrik.

Ende des Jahres wird „Niemandsland“ in Berlin zu sehen sein, eingeladen vom Theater Hebbel am Ufer (HAU). Um die Frage, wie nah man seinem Nachbarn kommen kann, geht es auch in Verhoevens anderer spektakulären Inszenierung, „You Are Here“. Im August stellt sich der Niederländer mit dem Stück, in dem die Zuschauer zu Bewohnern eines Hotels werden, bei den Salzburger Festspielen vor.


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