Von Phillip Hartwig
„Wenn Schnee und Regen genau gleichviel Raum einnehmen, dann stellt sich, einem Naturgesetz gleich, das alles durchdringende Harmoniegefühl ein.“
Manche Geschichten sind wie Tage im Winter: nass, kalt und grau. Still sitzt man am Fenster und sieht sich das unheilvolle Treiben an. Niemals würde man auf die Idee kommen hinauszugehen, raus in den Schneeregen.
Der Schweizer Autor und gelernter Tram-Führer Thomas Schenk begibt sich mit seiner Debüt-Erzählung auf eine Spurensuche. Er zeichnet das Psychogramm des zwanghaft vorsichtigen Anlagenberaters Schwitter, dessen geordnetes Leben aus der Bahn geraten ist und sich in einer Sackgasse verläuft. Auf kürzester Distanz spinnt Schenk ein dichtes Netz aus Erinnerungen und paranoiden Gedankenspielen, die mit beachtlicher Souveränität für beklemmende Lektüre sorgen.
Was war mit Schwitter geschehen? „Wie kann ein erwachsener Mensch in eine solche Lage geraten? Er las die Frage in Grubers Augen, (...)“, seinem Bettnachbar im Krankenhaus. Doch Schwitter vermag ihm keine Antwort zu geben. Alles was er wusste, war, dass er in den Wald gegangen war, auf einen abgelegenen Gebirgspfad, immer weiter und höher, bis an die Schneefallgrenze. Dort, im Schneeregen, verlor er das Bewusstsein und stürzte auf den gefrorenen Waldboden. In letzter Sekunde fand ihn ein Bauer im Schnee liegend und rettete ihn vor dem Kältetod.
Schwitter ist Banker, aber keiner dieser Schurken, die im letzten Jahr von der Weltöffentlichkeit an den Pranger gestellt wurden. Kunden werden in seiner Firma nach Risikotoleranz und Risikofähigkeit eingestuft und umworben. Doch Schwitter ist alles andere als ein Zocker. „Wenn seine Kunden Aktien zeichnen oder neue Fonds, hat Schwitter danach immer das Gefühl, sie hätten es aus Mitleid mit ihm getan.“ Er bleibt lieber unauffällig, beruflich wie privat. Sein Therapeut beim Autogenen Training riet ihm: „Du darfst nichts von deiner Atmung erwarten (…) dann wirst du nicht enttäuscht (…)“. Ein Kredo, das Schwitters Leben durchzieht.
Schenks metaphorisches Prinzip des Schneeregens durchdringt das Buch ins Genauste. Schwitter erspinnt sich sogar eine eigene Wissenschaft für dieses Phänomen: Die Pluvianivalik, auch Eigenschaftswörter auf lateinischer Sprache folgen: „Pluvius nivalis luminosus, pluvius nivalis facilis, er zögert, die Kasusfehler, doch damit darf er sich jetzt nicht aufhalten.“ So eine deutliche Metapher läuft immer Gefahr zu plakativ zu werden, doch verwebt sie sich hier so kunstvoll mit der selbstreflektierenden Persönlichkeit Schwitters, dass sie im höchsten Maß authentisch wirkt.
Das perfekte Gleichgewicht von Schnee und Regen erzeugt für Schwitter eine Harmonie, die er sich ebenso für sein Innenleben wünscht. Eine Harmonie, die gegen alle Widerstände beizubehalten ist. Doch das Leben, die Welt mit seinen zahllosen Variabeln, spielt dort nicht mit. Schon der normale Alltag gleicht für Schwitter einem Spießrutenlauf. Aufwendig sucht er das richtige Café, in das er sich setzen könnte, aber mal ist es zu laut, mal zu leise, zu viele Menschen oder zu wenige. Immer wieder scheint auf, dass Schwitter trotz erlangter Kontrolle nicht mit seiner Lage zufrieden ist: „Andere setzen sich ins erstbeste Café, auf gut Glück. Er beneidet sie darum, (...)“ Hier und da will er ausbrechen, hofft auf Fremdbestimmung, etwas das ihn zwingt auszubrechen. Und es geschieht: „Aber er hatte es sich anders vorgestellt, an eine körperliche Beschädigung gedacht, die ihn aus seiner Welt reißen könnte, ein Sturz vom Fahrrad, eine diffuse Müdigkeit, die ihn ins Bett zwänge, er rechnete mit Diebstahl, Wohnungsbrand, (...)“ Stattdessen tritt eine Frau in sein Leben: Beatrice.
Beatrice führt ein Leben ohne Sicherheiten, trifft Entscheidungen aus dem Bauch heraus. Sie gehen eine Beziehung ein, doch die beiden Gegenpole geraten aus dem Gleichgewicht. Schwitter spürt wie ihm die hart erarbeitete Kontrolle aus den Fingern gleitet. Kleinigkeiten summieren sich, sind es auch nur ihre Lebensmittel die unkontrolliert im Kühlschrank verderben. Als Beatrice spontan eine Zugfahrt nach Rom für sie beide bucht, ist es das vorzeitige Ende. „Ich weiß gar nicht, weshalb wir über diese Dinge reden, fuhr er sie an, wenn du alles selbst entscheidest, du organisierst mein Leben, als wäre es deines. Ihr Gesicht wurde hart, als wüsste sie bereits, dass sie nie mehr im gleichen Zug reisen würden.“
Der Autor arbeitet mit mehreren ineinander verwobenen Zeitebenen, die zwar gut gehandhabt sind, doch die Geschichte unnötig komplex machen. So erinnert sich Schwitter im Krankenhausbett an einen zurückliegenden Krankenhausbesuch und damaligen Bettnachbarn, jedoch auch an die Gespräche mit einem Bettnachbarn, der kürzlich entlassen wurde. Diese Erinnerungen scheinen relevante Vergleiche zwischen damals und heute anzustellen. Doch eine persönliche Veränderung in Schwitters Verhalten ist nicht zu erkennen. Auch sind Schwitters Zimmernachbarn auffällig instrumentalisiert. Stark ist das Buch immer dort, wo es auf „Statisten“ verzichtet und auf die personale Erzählhaltung vertraut. Tricks, wie eine fast schon aufgesetzte Paranoia, um künstlich einen unheilvollen Motor in der Geschichte laufen zu lassen, hätte diese fein gearbeitete Erzählung ebenfalls nicht nötig gehabt: „Ein Beruhigungsmittel in die Bouillon zu geben, das wäre ihr zuzutrauen, wäre allen hier zuzutrauen.“ Winzige Mankos, die dem Buch nicht wirklich etwas anhaben können.
Die Sehnsucht wieder hinaus in den Schneeregen zu gehen wird in Schwitter immer größer. Es ist die Sehnsucht nach perfekter Harmonie, die er nur dort zu finden glaubt. Es ist die Sehnsucht nach dem Tod, die Thomas Schenk hier ohne den geringsten Pathos in einer stillen Geschichte verpackt. Eine Geschichte der Ausweglosigkeit. Er wird es wieder versuchen. Aus dem Krankenhaus fliehen. „Wer weiß, wie lange es dauerte, bis sein Fehlen entdeckt würde.“ Eine unheilvolle Prophezeiung zu Anfang des Buches kommt dem Leser in Erinnerung. Schwitter schnitt sich tief beim Rasieren, doch es war kein Blut zu sehen. War er längst schon tot?
Die Figur des Einzelgängers und Sonderlings, der an der Welt zu scheitern droht, erfindet der Autor nicht neu. Doch dieses Zerbrechen erfolgt angemessen unterkühlt und erfrischend wertungsfrei. Mit distanzvollem Einfühlungsvermögen wird dieser speziellen Figur ein Platz in einer Welt erkämpft, von der sie dann selbstbestimmt abtreten darf.
Literaturangabe:
SCHENK, THOMAS: Im Schneeregen. Weissbooks, Frankfurt am Main 2010. 103 S., 16.80 €.
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