MÜNCHEN (BLK) – Im März 2009 ist im Manesse Verlag der Roman „Schau heimwärts, Engel“ des amerikanischen Schriftstellers Thomas Wolfe wieder aufgelegt worden. Die Neuübersetzung stammt von Irma Wehrli. Klaus Modick hat dieser Ausgabe noch ein Nachwort hinzugefügt.
Klappentext: „Schau heimwärts, Engel“ ist eines der legendären Romanepen des 20. Jahrhunderts. Betörend durch die Unmittelbarkeit des Erzählten wie durch eine Sprachkunst, in der schonungsloser Realismus und lyrische Anmut Hand in Hand gehen, gilt es als stilbildend für die moderne amerikanische Erzähltradition bis hin zu Jonathan Franzen. Mit der kommentierten Neuübersetzung kann man Wolfes Meisterwerk nun in seiner ganzen jugendlichen Frische und Kraft wiederentdecken.
Thomas Wolfe wurde 1900 in Asheville, North Carolina, als letztes von acht Kindern geboren. Trotz der bescheidenen und ärmlichen Verhältnisse, in denen er und seine Geschwister aufwuchsen, konnte er dank seiner Hochbegabung an der Harvard Universität studieren und wurde schließlich Dozent für amerikanische Literatur an der New Yorker University. 1938 starb Thomas Wolfe mit gerade mal 37 Jahren an Tuberkulose. (kum/ros)
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Ein Schicksal, das Engländer unter Deutsche4 führt, ist seltsam genug; doch wenn es von Epsom nach Pennsylvania führt und in den Hügelkranz um Altamont, wo der Hahn stolz im Korallenrot kräht und ein Marmorengel milde lächelt, webt eine dunkle Fügung mit, die in der öden Welt neue Wunder wirkt.
Die Summe dessen, was wir sind, hat keiner von uns je ermessen; man versetze uns zurück in Blöße und Nacht und wird vor viertausend Jahren auf Kreta die Liebe keimen sehen, die gestern in Texas ihr Ende fand.
Die Saat unseres Untergangs wird in der Wüste aufgehen, das Gegengift wächst aus dem Gebirgsfelsen, und durch unser Leben spukt eine Schlampe aus Georgia, weil in London ein Taschendieb dem Galgen entging. Jeder Moment ist die Frucht von vier zigtausend Jahren. Die minutengesättigten Tage summen wie Fliegen heimwärts in den Tod, und jeder Moment ist wie ein Ausblick auf alle Zeiten.
So auch dieser: Ein Engländer namens Gilbert Gaunt, der sich später Gant nannte (wohl aus Rücksicht auf die Aussprache durch die Yankees), kam 1837 auf einem Segelschiff von Bristol nach Baltimore und ließ den Ertrag des Wirtshauses, das er erworben hatte, bald seine sorglose Kehle hinunter rinnen. Er zog weiter westwärts nach Pennsylvania, hielt sich leidlich damit über Wasser, dass er Kampfhähne gegen Bauernhofgockel antreten ließ, und musste oft genug seinen Champion tot auf dem Platz zurücklassen und sich nach einer Nacht Arrest ohne klingende Münze in der Hosentasche, dafür zuweilen mit dem Abdruck einer tüchtigen Farmerfaust im dreisten Gesicht, aus dem Staub machen. Aber irgendwie kam er immer davon, und als er schließlich zur Erntezeit bei den Deutschen landete, war er von der Üppigkeit ihres Landes dermaßen angetan, dass er hier vor Anker ging. Binnen eines Jahres heiratete er eine herbe junge Witwe mit einer schmucken Farm, die wie all ihre Landsleute von seinem weltläufigen Auftreten und 10 seiner grandiosen Beredsamkeit beeindruckt war, besonders wenn er nach Art des großen Edmund Kean den Hamlet gab.5 Sie fanden alle, er hätte Schauspieler werden sollen.
Der Engländer zeugte Kinder – eine Tochter und vier Söhne –, lebte sorglos und unbeschwert dahin und ertrug die scharfen, aber aufrichtigen Bemerkungen seiner Frau geduldig. So vergingen die Jahre, der klare, ein wenig stechende Blick trübte sich hinter eingesunkenen Lidern, die Gicht lähmte den Schritt des hochgewachsenen Engländers, und eines Morgens, als seine Frau ihn aus dem Schlaf nörgeln wollte, fand sie ihn tot – von einem Schlaganfall dahingerafft. Er hinterließ fünf Kinder, eine Hypothek und in seinen seltsam dunklen, nun wieder stechend klaren und weit aufgerissenen Augen etwas, was nicht gestorben war: ein unbändiges und unergründliches Fernweh.
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Literaturangabe:
WOLFE, THOMAS: Schau heimwärts, Engel. Aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli. Mit einem Nachwort von Klaus Modick. Manesse Verlag, München 2009. 784 S., 29,90 €.
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