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Seismogramm einer Südstaatenfamilie

Irma Wehrli hat den Klassiker von 1929 neu übersetzt

© Die Berliner Literaturkritik, 01.07.09

Es war längst überfällig und der Zeitpunkt alles andere als zufällig gewählt. Achtzig Jahre nach der amerikanischen Erstausgabe (Oktober 1929) von „Look Homeward, Angel. A Story of the Buried Life“ hat der Manesse Verlag, Zürich das monumentale Epos des damals 29-jährigen Thomas Wolfe in diesem Frühjahr neu herausgebracht — brandfrisch, zeitgemäß und durchweg gelungen ins Deutsche übersetzt von Irma Wehrli. Zusammen mit Nachwort, editorischer Notiz und einem annähernd 50-seitigen Kommentar erreicht der Band eine Stärke von über 750 Seiten und ein Gewicht, das nicht nur rein physisch das Mittelmaß sprengt: Auf der SWR-Bestenliste hat die Neuerscheinung schlagartig einen der vorderen Plätze belegt.

Das ist erfreulich und gut. Denn Thomas Wolfes wohl bekanntestes Werk hatte Patina angesetzt im Laufe der Zeit. Hochgelobt von William Faulkner, Sinclair Lewis („eine kolossale Schöpfung voller Lebenslust“) und Hermann Hesse („die stärkste Dichtung aus dem heutigen Amerika, die ich kenne“), verblasste der Nimbus des lange Zeit als Kultbuch gehandelten Solitärs. Es stand in den Regalen, wurde gezähmt, gestutzt auf das Maß eines betulichen 2-stündigen Fernsehfilms (1961) und ehrfürchtig aufgenommen in den Kanon der viel zitierten, aber immer seltener gelesenen „Jahrhundertwerke“. Gleichwohl zeigte es in der angelsächsischen Literatur beständig Nachhall und Einfluss, so bei John Updike, Philip Roth, Richard Ford und anderen. Jonathan Franzens „Korrekturen“ wären nicht denkbar ohne Wolfes „Familienroman“ und dessen Demontage des heilig gesetzten „home, sweet home“.

Heillos und dauerhaft im Ausnahmezustand, so schildert Wolfe das Leben der Gants: W. O., den quartalssaufenden, titanischen Vater, verschlägt es aus dem Norden nach Altamont, North Carolina. Der Steinmetz behaut Grabsteine, meißelt Inschriften und deklamiert Shakespeare im Rausch; er heiratet die Südstaatlerin Eliza Pentland, eine Aushilfslehrerin und Lexikonverkäuferin, die später eine Pension führt und allzu geschäftstüchtig mit Grundstücken spekuliert. Acht Kinder kommen zur Welt, sechs wachsen auf, werden aufgerieben zwischen den extremen Charakteren der Eltern. Hass, Missgunst, Herzenskälte und hysterischer Überschwang wechseln im Turnus wie die Grundstückspreise in Altamont, die Alkoholexzesse des Vaters, das Fluchen, Flüchten und Heimkehren der Töchter und Söhne. Mittenmang, doch allein und für sich, der 1900 geborene Jüngste, Mamas „Baby“, der zarte, genialische Eugene Gant mit langer, feminin anmutender Lockenpracht.

Eugene ist unverkennbar das Alter Ego des Autors, „Schau heimwärts, Engel“ die stark fiktionalisierte Autobiografie Thomas Wolfes, der erste, die Jahre 1900 bis 1919 umfassende, Teil eines langfristig auf insgesamt fünf Fortsetzungen konzipierten Werkes, schuhkartonschwer, fabulierwütig mäandernd zwischen Innensicht der Gant’schen Familie, panoramatischem Blick auf Altamont (= Asheville, den Geburtsort Wolfes) und Zeitgeschichte (Weltausstellung St. Louis 1905, Erster Weltkrieg, Grippe-Pandemie ab 1918), ein gewaltiges Opus, das ausufert bis zu den Schöpfungstagen der Erde, das Mythos und Realgeschichte ineinanderfließen lässt und in dem, ganz zentral, Eugene Gant krabbelt, stolpert und erste eigene Wege wagt, als Kind, Heranwachsender und junger Mann.

Ein Entwicklungsroman also mit einem schwärmerisch-exaltierten „Wilhelm Meister“ der Südstaaten, der die harte Schule des Lebens durchläuft, sich befreit aus der Umklammerung der Mutter, dem Würgegriff der Gants und sich erhebt über die kleinstädtische Durchschnittlichkeit mittels Lektüre, Collegeabschluss, schmerzhafter Selbst- und Welterfahrung? Ja, auch, und dazu die sprachmächtige, fast manische Vergegenwärtigung einer „vergessenen, verlorenen Zeit“, die irrlichternde Suche nach „ein(em) Stein, ein(em) Blatt, eine(r) nie gefundene(n) Tür“ und dem allumfassenden Schlüssel, der Eugene Gant endlich die Tür aufstoßen lässt zu der unermesslichen Fülle des Lebens, ihm den Durchbruch freischlägt zu der einen großen, ungeheuren Reise, der ersten, der letzten, der einzigen.

1926, also im Alter von nur 26 Jahren, begann Thomas Wolfe mit der Niederschrift dieses Rückblicks, der ursprünglich vorgesehene Romantitel „O Lost“ überschrieb ein Textkonvolut, dessen gewaltiger Umfang erst um ein Drittel auf das publizierbare Maß von „Schau heimwärts, Engel“ gekürzt und gebändigt werden musste. Als er das Mammutprojekt in Angriff nahm, lehrte der Harvard-Absolvent Wolfe bereits amerikanische Literatur an der New York University, hatte sich als Lehrer und Dramatiker, auch Schauspieler versucht und eine erste von zahlreichen Europareisen unternommen, die ihn wiederholt, und letztmalig zur Sommerolympiade 1936, nach Deutschland führen sollten. 1932 erschien bei Rowohlt die deutsche Übersetzung des Wolfe’schen Romandebüts, erarbeitet von Hans Schiebelhuth und bis auf eine 1954 erfolgte Überarbeitung bislang die erste und einzige im deutschen Sprachraum.

Irma Wehrli, die mit Vorliebe und Erfolg amerikanische Klassiker des 19. und 20. Jahrhunderts übersetzt (von Nathaniel Hawthorne, Oscar Wilde bis Rudyard Kipling), hat es gewagt und voll getroffen: den unverwechselbaren und sehr eigenen Sprach- und Erzählduktus Thomas Wolfes, seinen mitunter unvermittelten Wechsel von Pathos zu Satire, von traditionell realistischer und nüchtern sachlicher Schilderung zu Gesang, Hymnus, zur Vision. Thomas Wolfe schöpfte ebenso aus dem Fundus der abendländischen Literatur wie aus der Gegenwartssprache, derbe Gassenhauer stehen neben Bibelzitaten, die Überspitzung zur Groteske bricht sich mit der fiebrigen Exaltation des empfindsam-melancholischen, wilden Helden.

Schau heimwärts, Engel“ ist vielstimmig angelegt, nicht nur in den parataktischen Satzgefügen, sondern in den exzellent und äußerst dramatisch gestalteten Dialogen im Hause Gant, dem auf- und abschwellenden Stimmengeraune der „small town“ Altamont, das Alltagsweisheiten zum Besten gibt und kommentierend die Krisen, Brüche orchestriert, die vergeblichen Versuche der Familie, ein irgendwie erträgliches Maß zu halten, einen Zugang zu sich und den anderen zu finden, zu leben. Irma Wehrli hat den genuin Wolfe’schen Tonfall und Rhythmus mit Bedacht und Genauigkeit aufgegriffen, modern und überzeugend übertragen in Wortwahl, Satzbau und Komposition.

Für den heutigen Leser liegt somit ein Werk der Weltliteratur zur Neu- und Wiederentdeckung vor – als Zeitdokument und Seismogramm einer Südstaatenfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als grandioses Sprachkunstwerk des leider viel zu früh (1938) verstorbenen Thomas Wolfe und als das, was es in seinen herausragenden Momenten zu sein vermag: ein Zeugnis lebensbejahender Vitalität, so wenn der neunzehnjährige Eugene Gant vor seinem Aufbruch nach Harvard in der Schlussszene den einen Satz erkennen darf, kann, der ihm Rettung sein wird und vorwärtsweisendes Licht: „Du bist die Welt.“

Von Monika Thees

Literaturangabe:

WOLFE, THOMAS: Schau heimwärts, Engel. Eine Geschichte vom begrabenen Leben. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Irma Wehrli. Nachwort von Klaus Modick. Manesse Verlag, Zürich 2009. 782 S., 20,90 €.

Weblink:

Manesse Verlag


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