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Tiefer Schnitt

Detective Inspector Charlie Resnick und sein Team arbeiten gegen die Zeit

© Die Berliner Literaturkritik, 12.08.09

MÜNCHEN (BLK) – Im Juni 2009 ist bei dtv der Kriminalroman „Tiefer Schnitt“ von John Harvey erschienen.

Klappentext: Als Tim Fletcher mitten in der Nacht die Klinik verlässt, hat er 21 Stunden Dienst hinter sich. Nur der Gedanke an seine zu Hause wartende Freundin hält ihn noch wach. Kein Wunder also, dass er die leisen Schritte hinter sich nicht hört. Viel zu spät sieht er im Schein der Straßenlaterne die scharfe Klinge aufblitzen… Der junge Assistenzarzt ist nur das erste Opfer einer Serie brutaler Überfälle auf das Personal des städtischen Krankenhauses von Nottingham. Die Panik unter Ärzten und Schwestern wächst. Ist der Angreifer einer von ihnen? Er hat umfassende Kenntnisse in Anatomie und Physiologie, weiß mit einem Skalpell umzugehen. Detective Inspector Charlie Resnick und sein Team arbeiten gegen die Zeit: Der Täter hat bereits sein nächstes Opfer im Visier…

John Harvey, 1938 in London geboren, wurde durch seine Drehbücher für Krimiserien im englischen Fernsehen bekannt. Nach Ansicht vieler britischer Schriftsteller und Kritiker gehören seine Romane zum Besten, was Großbritannien derzeit im Genre Kriminalroman zu bieten hat. Für sein umfangreiches Werk – vor allem Krimis, aber auch Erzählungen und Lyrik – wurde er vielfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem „Diamond Dagger“ für sein Lebenswerk. (ber/mül)

Leseprobe:

©dtv©

1

Als sie sich zum ersten Mal für ihn ausgezogen hatte, hatte er ihr gesagt, sie sei vollkommen; es war ihm herausgerutscht, ohne dass er es wollte. Vollkommen. Er hatte sie vor zwei Monaten beim Tanzen kennengelernt, und er stellte sich vor, wie sie nun auf ihn wartete, in ihrem Zimmer unweit des Krankenhauses, ab und zu einen Blick auf die Uhr warf, bei einem zweiten Glas Wein.

Vollkommen.

„Sie sehen ja mehr tot als lebendig aus.“ Die Worte rissen ihn zurück in die Wirklichkeit. Vor ihm stand die Stationsschwester und zog sich mit einer Hand die Schwesterntracht zurecht, die sich über dem Gürtel aufgebauscht hatte.

„Danke“, sagte Fletcher.

Sarah Leonard lächelte. „Der Neuzugang …“, begann sie.

Fletcher blinzelte, versuchte sich zu konzentrieren. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er drei Stunden Schlaf bekommen, elf in den letzten zweiundsiebzig; er hatte das Gefühl, im Delirium zu sein.

„Vermutlich ein Schlaganfall“, sagte Sarah. „Der Nachbar hat die Polizei gerufen. Der Mann lag seit zwei Tagen auf dem Küchenboden.“

„Wie alt?“

„Siebzig.“

„Ich mach den Papierkram morgen.“

„Er wird einen Tropf brauchen. Sie werden ihm noch

eine Venflon setzen müssen.“

„Das können Sie doch auch.“

„Sie wissen so gut wie ich, dass das gegen die Regeln ist.“

Fletcher lächelte. „Ich sag’s auch nicht weiter.“

Ihre Augen erwiderten sein Lächeln, ein bisschen jedenfalls. Irgendwo auf der Station hatte ein Patient einen Hustenanfall nach dem anderen. Ganz in der Nähe wimmerte ein Jugendlicher, dessen Gesicht mit einem Netz von Nähten überzogen war. Rufe nach der Schwester wurden laut und verstummten wieder wie eine Litanei.

„Na schön, Frau Stationsschwester“, sagte Fletcher mit gespielter Feierlichkeit.

„Danke schön, Herr Doktor.“ Sie wartete, bis er sich in Bewegung gesetzt hatte, und schloss sich ihm an.

Der Patient wohnte allein im zwölften Stock eines Wohnsilos; zwei Sanitäter und ein Polizist waren nötig gewesen, um ihn die Treppe hinabzubekommen, da der Lift stecken geblieben war. Jetzt lag er unter einigen Decken auf dem Rücken, das Gesicht ganz grau, Beine wie Knöchel geschwollen. Der Mann musste an die 110 Kilo wiegen. Auf der Suche nach einer Vene schlug Fletcher mit der Rückseite seiner Finger gegen die Innenseite des Unterarms. Die Fettpolster waren nicht das einzige Problem; der Mann war unterkühlt und stand unter Schock.

„Die Peripherie wird nicht durchblutet“, sagte Fletcher und drehte den Arm herum.

Sarah nickte. Ihr Blick war auf die Nadel gerichtet, um weiter oben für den nötigen Druck zu sorgen, wenn es so weit war.

„Ich versuch’s mit dem Handrücken“, sagte Fletcher.

Er riss die Augen weit auf und kniff sie dann zusammen, um richtig sehen zu können. Die Kanülenspitze punktierte die Vene am Rand und stieß durch.

„Scheiße!“

Er zwang sich zur Ruhe und setzte zu einem zweiten Versuch an. Das Geschrei hinter ihnen, das vor einigen Minuten angehoben hatte, schien nicht aufhören zu wollen.

„Kommen Sie klar?“, fragte Sarah.

„Sieht es so aus?“

Sie legte flink einen Stauschlauch an und ließ ihn allein weitermachen. Diesmal fand Fletcher die Vene, war aber so ungeschickt beim Lösen des Schlauchs, dass das Blut zurückschoss, bevor er den Zylinder verschlossen hatte. Ein feiner roter Sprühregen besprenkelte seine Hände und die

Vorderseite seines weißen Kittels. Rasch bildete sich eine kleine Lache, die durch die oberste der Decken zu sickern begann, mit denen der Patient zugedeckt war. Auf dem Weg nach draußen kam Sarah ihm entgegen.

„Tausend Milliliter Salzlösung über vierundzwanzig Stunden“, sagte er, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

„Wo wollen Sie denn hin?“, fragte Sarah über die Schulter.

„Feierabend.“

Kopfschüttelnd hob sie die blutige Nadel auf, die er einfach neben dem Arm des Patienten hatte liegen lassen, und warf sie in den Behälter für scharfe Abfälle. Die Decken wurden langsam tiefrot; sie würde sie wechseln müssen. Scheinbar ohne Eile brachte Sarah die Arbeit des Arztes zu Ende und legte den Tropf.

Fletcher beugte sich über das Waschbecken und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel sah er aus wie einer, der viel Zeit unter der Erde zubrachte. Er wusste, wenn er sich nicht rasierte, würde er Karen wund reiben, aber im Augenblick schien es ihm wichtiger, zu ihr zu kommen, bevor sie die Warterei satthätte. Er würde sie unten vor dem Rausgehen anrufen und ihr sagen, er sei auf dem Weg.

Ein letztes Mal hielt er seine Hände unter den Wasserhahn, dann fuhr er sich mit den Fingern durch das wuschelige schwarze Haar und zog einen gefütterten blauen Anorak über seinen Arztkittel.

Zur Abwechslung war das Telefon am Ausgang mal frei, aber bei Karen ging niemand ran, obwohl sie in einer Wohngemeinschaft wohnte. Nachdem er es ein halbes Dutzend Mal hatte klingeln lassen, gab er es auf und eilte die Treppe hinauf in den Zwischenstock. Beim Gehen streifte er den Kopfhörer seines Walkmans über. Er stieß eben die erste der Flügeltüren auf, die auf die verglaste Fußgängerbrücke führten, als auch schon das Duett aus dem letzten Akt von ‚Manon’ begann. Die Brücke führte über die Umgehungsstraße, und zwar genau auf halbem Weg zwischen der Unter- und der Überführung. Sie verband das Krankenhaus mit der Universität und den angrenzenden Wohnbezirken.

Sofort stieg Fletcher der vertraute Gummigeruch des Bodenbelags in die Nase, wenn er auch das Quietschen seiner Sohlen darauf nicht hörte, da sein Walkman voll aufgedreht war. Die Luft hier war immer abgestanden, die Wärme hielt sich wegen der Türen an beiden Enden, egal wie warm oder kalt es draußen war.

Er war etwas unsicher auf den Beinen, und wie er, die Hände in den Taschen, so leicht vor sich hin wankte, hätte man meinen können, er sei betrunken. Die Scheinwerfer der Autos sausten den Hügel südlich der Stadt hinunter; auf dem Drahtglas schienen sie Lichtblasen zu werfen. Hier und da klebte, obwohl der Anschlag verboten war, ein Plakat: Reklame für Veranstaltungen, politische Versammlungen, ein Kinderwagenrennen am Kanal.

Fletcher begann mit einem Mal ebenso kräftig wie falsch mitzusingen. Wenn es mit Karen weiterhin so gut lief, würde er für kommenden Monat Karten für die Oper besorgen und sich durch eine kleine Bestechung ein paar freie Abende erkaufen. Wenn es gut lief … Hinter ihm öffnete sich, ohne dass er es merkte, die Tür, die auf die Treppe hinunter zur Straße führte.

Fünfzehn Meter vor dem anderen Ende der Fußgängerbrücke hatte er die schneller werdenden Schritte der weichen Sohlen hinter sich noch immer nicht gehört. Als er schließlich merkte, dass er nicht allein war, dachte er merkwürdigerweise nicht an Karen, sondern an die halb lächelnden, halb vorwurfsvollen Augen von Sarah Leonard, der Stationsschwester. Er bemerkte kurz eine Spiegelung in der Glastür vor sich, und als er den Kopf wandte, sah er gerade noch die auf ihn zufahrende Klinge, die im Licht der Lampen eine orangefarbene Sichel zog.

Der Stoß ließ ihn nach hinten taumeln, und er verlor den Halt, als er mit voller Wucht auf die Mitte der beiden Türflügel zuschoss. Er stürzte, und bevor ihn ein brennender Schmerz durchfuhr, dachte er noch, man hätte ihn geschlagen, nicht geschnitten. Er hatte den Kopfhörer verloren, aus dem jetzt blechern Massenet tönte. Fletcher hob eine Hand, um sich vor seinem Angreifer zu schützen, und die Klinge sorgte für eine klaffende Wunde in seinem Handballen, bevor sie ihn wieder verließ.

Irgendwie kam er wieder auf die Beine und begann zu laufen. Jemand stellte ihm ein Bein, und er schlug mit der Schläfe gegen das Drahtglas, das dabei sprang. Er trat um sich, duckte sich und stürzte taumelnd durch die erste Türe, fast schon am Ausgang jetzt, dahinter die Treppe, die Straße. Seine Beine gaben nach, und er schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Durch den gedämpften Verkehrslärm hörte er das Keuchen seines Angreifers. Ohne es wirklich zu wollen, zwang er sich, den Kopf zu drehen. Durch das Blut sah er ein schwarzes Sweatshirt, eine Sturmhaube, schwarze Handschuhe. Dann eine Bewegung. Fletcher schrie auf und versuchte, auf allen vieren kriechend zu entkommen. Die Klinge fuhr ihm in den Oberschenkel und begann ihren Weg hinunter zum Knie.

Karen Archer stopfte die leere Flasche in den Abfalleimer, der in einer Ecke ihres Zimmers stand, und schaltete den tragbaren Fernseher aus. Als sie endlich am Telefon im Erdgeschoss war, hatte der Anrufer bereits wieder aufgelegt. Vielleicht war es Tim gewesen, um ihr zu sagen, dass er unterwegs war und dass es ihm leidtat, wieder mal aufgehalten worden zu sein.

„Lass dich bloß nicht mit einem Assistenzarzt ein“, hatte ihr ein befreundeter Medizinstudent gesagt. „Du wirst schon sehen, was du davon hast.“

„Was denn?“

„Nicht sehr viel.“ Sie hatte gelacht. Nur dass es in der Tat nicht sehr viel war. Das letzte Mal, als Tim Fletcher bei ihr gewesen war, hatte er nach zehn Minuten geschlafen wie ein Stein. Sie hatte ihm den Rest seiner Kleidung ausgezogen, ihn unter ihr Federbett gesteckt und sich im Schneidersitz neben ihn gesetzt – mit zwei Pullis und T. S. Eliot. Und so toll war es nun auch wieder nicht gewesen.

Karen holte eine Schachtel Zigaretten aus der Schublade mit der Unterwäsche, konnte aber keine Streichhölzer finden und steckte sie wieder weg. Musste ja nicht sein. Falls das tatsächlich Tim gewesen war vorhin, war er womöglich schon unterwegs.

Sie stieg in ihre knöchelhohen Wildlederstiefel und nahm den Kamelhaarmantel vom Haken hinter der Tür, den ihre Tante, aufmerksam wie sie war, in einer Oxfam-Filiale in Richmond entdeckt hatte. Sie steckte die Schlüssel ein und ging die Treppe hinunter, wobei sie ganz automatisch über die Stufe mit dem fehlenden Brett hinwegstieg. Wenn sie in Richtung Brücke losging, müsste sie ihn eigentlich treffen.

©dtv©

Literaturangabe:

HARVEY, JOHN: Tiefer Schnitt. Deutsch von Bernhard Schmid. dtv, München, 2009. 368 S., 8,95 €.

Weblink:

dtv


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