(BLK) — im März 2009 erschien beim Carl Hanser Verlag das Erinnerungsbuch „Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag“ von David Rieff.
Im März 2004 wurde bei Susan Sontag Leukämie in der schlimmsten Form diagnostiziert. Die Frau, die schon zweimal den Krebs überlebt und einen berühmten Essay darüber geschrieben hatte, beschloss, den Kampf gegen die Krankheit auch dieses Mal aufzunehmen. Ihr Sohn David Rieff beschreibt in seinem Erinnerungsbuch, was es für ihn bedeutete, einer wahrheitshungrigen Mutter in ihrem letzten Lebensjahr Lügen erzählen zu müssen. Sein Porträt ist zutiefst ergreifend und wirft Fragen auf, die jedermann angehen: Wie verhalten sich Angehörige, wenn der Kranke belogen werden will? Wie wird man mit Schuldgefühlen fertig? Was bedeutet es, in einer Kultur zu leben, die den Tod leugnet?
David Rieff schreibt für „Harper's“, „The New Republic“, „The New Yorker“ und die „Washington Post“. Er veröffentlichte 1995 „Schlachthaus — Bosnien und das Versagen des Westens“. (rud/ber/mül)
Leseprobe:
©Carl Hanser Verlag©
Kein Gedanke lag mir ferner. Ich glaubte, am Ende einer langen Auslandsreise und auf dem Heimweg nach New York zu sein. Doch ich stand am Beginn des Weges,
der mit dem Tod meiner Mutter enden sollte. Um genau zu sein, es war der Nachmittag des 28. März 2004, ein Sonntag. Ich war auf meiner Rückreise aus dem Nahen Osten und hielt mich auf dem Flughafen Heathrow in London auf. Nach fast einem Monat mit ständigem Pendeln zwischen Ost-Jerusalem und dem
Westjordanland (ich arbeitete an einer Reportage über die Palästinenser in der letzten Phase von Arafats Herrschaft) freute ich mich, nach Hause zu kommen, und war nun auch schon halbwegs dort. Ansonsten herrschte in meinem Kopf eine ziemliche Leere. Die Reise war enttäuschend verlaufen. Was ich mir vorgenommen hatte, war nur zum Teil erreicht, und ich wusste, den Artikel zu schreiben würde schwierig werden. Ich war müde, ein bisschen ausgebrannt, ein bisschen verkatert und noch lange nicht an dem Punkt, wo ich versuchen konnte, aus dem, was ich zusammengetragen hatte, einen Text zu machen. Aber das hatte Zeit, bis ich wieder zu Hause war, und so fing ich an, in der Lounge von United Airlines zu telefonieren — wieder Verbindung mit der Heimat aufnehmen, wie ich es immer tat, wenn ich mit den Recherchen zu einem Artikel fertig war. Bei einem dieser Gespräche sagte mir meine Mutter, Susan Sontag, möglicherweise sei sie wieder krank.
Ich spürte deutlich, wie sie sich Mühe gab, fröhlich zu klingen. „Da könnte etwas nicht in Ordnung sein“, sagte sie schließlich, nachdem ich mich viel zu lange über die Lage im Westjordanland ausgelassen hatte. Während ich unterwegs gewesen war, habe sie ihre halbjährlich stattfindenden Computertomographien und die Blutproben machen lassen — die üblichen Vorsichtsmaßnahmen, die sie seit der Operation und der anschließenden Chemotherapie wegen des Gebärmuttersarkoms befolgte, das
man sechs Jahre vorher bei ihr diagnostiziert hatte. „Eine der Blutproben scheint nicht so gut zu sein“, sagte sie und fügte hinzu, sie habe schon einige weitere Untersuchungen machen lassen. Und dann fragte sie mich, ob ich sie am nächsten Tag zu einem Spezialisten begleiten würde, der ihr empfohlen worden war und der ein paar Tage vorher einige Nachuntersuchungen gemacht hatte. Er werde die abschließenden Ergebnisse dann vorliegen haben. „Wahrscheinlich ist es nichts“, sagte sie und erinnerte mich daran, wie oft es schon falschen Alarm gegeben hatte, sowohl nach ihrem Sarkom als auch nach der radikalen Mastektomie, der sie sich hatte unterziehen müssen, nachdem 1975 bei ihr Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert worden war.
Noch einmal sagte sie, wahrscheinlich sei es garnichts. Und ich plapperte es ihr nach. Wir seien in diesem Punkt einer Meinung, versicherten wir uns. Vollkommen irrational war das ja auch nicht. Nie war bei einem solchen Alarm irgendetwas herausgekommen, der? Einmal hatte ein CT ergeben, dass mit ihrer linken Niere etwas nicht stimmte. Auch das hatte nach Krebs ausgesehen, aber am Ende hatte sich herausgestellt, dass meine Mutter einfach eine seltsam geformte Niere besaß. Dann wieder fürchteten die Ärzte meiner Mutter, ein plötzlicher Anfall von heftigen Magenkrämpfen könnte ein Indiz für Darmkrebs sein. Auch diese Besorgnisse hatten sich als grundlos erwiesen. Und nachdem meine Mutter, wie andere Krebspatienten auch, unter dem Damoklesschwert eines Rückfalls lebte, seit sie mit Anfang vierzig zum ersten Mal Krebs gehabt hatte, hatte sie auf denkbar mühsame Weise gelernt, bei solchen Nachrichten die Ruhe zu bewahren oder wenigstens äußerlich ruhig zu bleiben. Auch diesmal würde es ein falscher Alarm sein, sagte jeder von uns noch einmal. Hatten wir das alles nicht schon mehrmals erlebt? Doch unsere Worte waren wie flache Atmenzüge, und unsere Fassung war Erstarrung, nicht Ruhe. Ich schäme mich, sagen zu müssen, dass ich erleichtert war, als wir das Gespräch beendeten.
Danach versuchte ich, an gar nichts zu denken, starrte auf das Flugfeld von Heathrow und sah zu, wie die Flugzeuge landeten und starteten, bis ich den Aufruf für meinen eigenen Flug hörte. Sobald wir in der Luft waren, betrank ich mich. Aber das mache ich immer so. Nach der Landung fuhr ich nach Hause. Von dort rief ich bei meiner Mutter an, doch es kam eine Freundin von ihr an den Apparat und sagte, meine Mutter schlafe. Das würde ich jetzt auch tun, sagte ich. Und ich tat es – statt den Schmerz herauszuschreien, den mir der Gedanke verursachte, dass es diesmal möglicherweise keinen Aufschub geben würde. Wie sich meine Mutter an diesem Tag gefühlt haben mag, kann ich mir nicht einmal vorstellen.
Am nächsten Morgen holte ich sie in ihrem Apartment ab. Sie war nicht ausgeruht. Im Gegenteil, ich merkte sofort, dass sie nicht geschlafen hatte. Wenn ich daran zurückdenke, fallen mir ihre hektische Munterkeit ein und meine nur teilweise erfolgreichen Versuche, genauso munter zu tun. Ich sage „teilweise erfolgreich“, weil es mir zwar noch gelang, ruhig zu bleiben, aber wenn ich etwas sagte, entstand schon damals diese winzige Pause zwischen dem, was ich sagte, und dem, wie ich es hörte. Wenn ich daran zurückdenke, wünsche ich mir, ich hätte sie in die Arme genommen oder ihre Hand gehalten. Aber wir neigten beide nicht dazu, uns unsere Gefühle füreinander durch körperliche Berührungen zu zeigen, und obwohl es oft heißt, in Krisen wüchsen Menschen über sich hinaus, ist es, zumindest nach meiner Erfahrung, eher so, dass in solchen Situationen oft das zum Vorschein kommt, was sonst unterhalb der Wasserlinie liegt, bei der unser eigentliches Wesen beginnt. Was meine Mutter und ich miteinander teilten waren Wörter, aber diese Wörter schienen plötzlich fast wertlos zu sein – wie Südstaatendollars aus der Zeit des Bürgerkriegs oder sowjetische Rubel. An meine eigene Angst erinnere ich mich nicht, wohl aber daran, wie lebhaft ich mir die ihre vorstellte. Dabei sprach sie weiter über den Nahen Osten, und ich, unfähig, irgend etwas zu sagen, was wirklich wichtig war, geschweige denn, sie zu berühren, erzählte weiter von Arafat und seinem Amtssitz in Ramallah – als wenn es darauf noch angekommen wäre. Dieses Gespräch setzten wir fort, bis wir bei der Praxis des Spezialisten – genauer gesagt, des Leukämiespezialisten – ankamen.
Dr. A. – so wie ich heute über ihn denke, ziehe ich es vor, seinen Namen nicht zu nennen – war ein großer Mann mit einer ausladenden (und in meinen Augen ziemlich herrischen) Art, sich zu geben, die zu seinem Leibesumfang passte. Jedenfalls kam es mir so vor. Hätte er bessere Nachrichten mitzuteilen gehabt oder auch nur die schlechten Nachrichten besser übermittelt, wäre mir vielleicht ein anderes Bild von ihm in Erinnerung geblieben – Bruder Tuck, der Gefährte von Robin Hood, oder irgendeine drollige Figur aus einem Roman von Charles Dickens. Und fairerweise muss ich hinzufügen, dass ich damals vor Angst selbst fast katatonisch und in zunehmendem Maß verwirrt war. Mir war, als hätte sich alles um mich her verschoben. Ich wusste nicht mehr, wo rechts und links war. Ich schüttelte die Hand von Dr. A., ich lächelte mechanisch, als er eine Bemerkung über in der Welt herumreisende Journalisten machte, und setzte mich neben meine Mutter – zu mehr war ich nicht imstande. Ich erinnere mich, wie ich auf seinem riesigen, unaufgeräumten Schreibtisch umherblickte, während er uns die schlechte Nachricht mitteilte. Denn es war nicht „nichts“. Im Gegenteil, es ging – unfassbar – um alles. Dr. A. sagte es klipp und klar. Nach den Untersuchun- gen, die er letzten Freitag gemacht habe – Blutbild und Knochenmarkbiopsie –, hege er keinen Zweifel, dass bei
meiner Mutter das Myelodysplastische Syndrom vorliege. Meine Mutter und ich starrten ihn verständnislos an. Dieses Wort sagte uns beiden nichts. Unsere Verwirrung enttäuschte ihn. MDS, so erläuterte er langsam und jedes Wort betonend, als hätte er es mit einer Familie von Dorftrotteln zu tun, sei eine besonders tödliche Form von Blutkrebs.
„Du musst etwas sagen“, dachte ich. Ich spürte ein Hämmern in meinem Kopf. Ich versuchte, Dr. A.s Tonfall nachzuahmen, und es gelang mir, ihn zu fragen, ob er absolut sicher sei. Präsentierten sich unterschiedliche Krebsarten nicht oft in ähnlichen Formen? Fragte ich, meine Zuflucht in medizinischem Jargon suchend, so wie er sich in Abkürzungen und Pädagogik zu retten versucht hatte. Gab es keinen Raum für Zweifel, eine Chance, dass irgend etwas nicht stimmte und dass dieses „Etwas“ sich als etwas weniger Tödliches erweisen könnte? Dr. A. schüttelte entschieden den Kopf. Die Blutproben und vor allem die Knochenmarkbiopsie seien absolut eindeutig. Dann begann er zu erklären, was MDS sei. Ich lauschte, ohne wirklich zuzuhören, lauschte wie durch einen Nebel dem Geriesel der fremden Wörter und Begriffe, die ihm zwar entströmten, aber nicht ganz bis zu mir gelangten. MDS sei durch eine „refraktäre Anämie“ gekennzeichnet. Die Stammzellen, die das Knochenmark meiner Mutter produziere, entwickelten sich nicht mehr zu reifen Blutkörperchen, sondern nur noch zu „Blasten“ – unreifen Blutkörperchen, die ihre normale Funktion nicht erfüllen könnten.
Damals verstand ich nichts von alledem, außer natürlich, dass die Nachricht entsetzlich war. Ich vermute, Dr. A. mit seiner ganzen Erfahrung wusste, dass seine Worte wahrscheinlich nicht schon bei ihrem ersten Auftauchen verstanden würden. Wie viele Ärzte sprach er mit uns, als hätte er Kinder vor sich, aber ohne die Behutsamkeit, mit der ein verständiger Erwachsener im Umgang mit Kindern seine Worte wählt. Statt dessen hielt er uns eine Vorlesung. Weder meine Mutter noch ich unterbrachen ihn.
Erst als er geendet hatte, fragte ihn meine Mutter, welche Behandlungsmethoden gegen MDS eingesetzt würden und wie groß die Chance sei, eine Remission zu erreichen. Wieder gab sich Dr. A. keinerlei Mühe, meine Mutter auf das, was er ihr zu sagen hatte, vorzubereiten oder es auf eine Weise zu formulieren, in der sich irgendein Mitgefühl bekundete oder ein Erschrecken angesichts der Lage, in der sie sich befand. Wenn sich alle Ärzte so verhielten, könnte ich ihm vielleicht verzeihen. Aber nicht alle Ärzte verhalten sich so, wie meine Mutter noch voller Dankbarkeit erfahren sollte.
Dr. A. kam immer mehr in Fahrt. Wie man es auch drehe und wende, die Antwort könne nur lauten, dass es keine wirksamen Behandlungsmethoden gebe, zumindest keine, die zu einer langfristigen Remission führten, geschweige denn zur Heilung. Natürlich gebe es eine Anzahl von Palliativmitteln zur Verbesserung der „Lebensqualität „ des Patienten. Ob es sich um einen medizinischen Gemeinplatz, einen Euphemismus oder einen Terminus technicus handelte – den Ausdruck „Lebensqualität“ sollten die Ärzte und Krankenschwestern während der Krankheit meiner Mutter unentwegt im Munde führen. Weiter sagte Dr. A., es gebe ein Mittel namens „5-Aza cytidin“, das oft zu einer zeitweiligen Remission führe. Aber im allgemeinen sei es nicht länger als sechs Monate wirksam. Von diesem „5-Aza“ abgesehen, bestehe die einzige Chance, MDS für sehr lange Zeit zu überleben, in einer Knochenmarktransplantation. Allerdings sei das bei einer Frau von einundsiebzig Jahren wie meiner Mutter ebenfalls kein sehr vielversprechender Weg.
Im Grunde lief Dr. A.s Empfehlung darauf hinaus, dass meine Mutter gar nichts unternehmen solle, bis das MDS in eine „ausgewachsene“ AML – eine akute myeloische Leukämie – „konvertiert“ sei. Diese Verwendung des Wortes „konvertieren“ war mir bis dahin völlig unbekannt, aber ich sollte sie bald kennen und fürchten lernen. Ich verstand die Empfehlung von Dr. A. nicht sofort. Im Gegenteil – Abwarten schien selbstmörderisch zu sein, da AML anscheinend noch viel schlimmer war als MDS (und wie schnell sich diese Abkürzungen im Kopf festsetzten!). Bei AML entwickelten sich die Stammzellen zu abnormen weißen und roten Blutkörperchen und Blutplättchen. Je mehr von diesen so genannten Leukämiezellen oder Blasten vorhanden waren, desto weniger Platz blieb für gesunde Blutkörperchen und Plättchen. Und das hieß, wenn die Zahl der Leukämiezellen im Blut und im Knochenmark einen bestimmten Schwellenwert überstieg, konnte der Körper seine Funktionen nicht mehr erfüllen. Dr. A. sprach die logische Folge hiervon, dass man dann starb, nicht aus. Es war auch nicht nötig. So viel hatten meine Mutter und ich immerhin verstanden.
Meine Mutter trug noch immer das starre Lächeln zur Schau, mit dem sie auf der Fahrt von ihrer Wohnung zur Praxis von Dr. A. auch meine Nahostgeschichten ange - hört hatte. Aber als Dr. A. nun weitersprach, überkam mich plötzlich mit ungeheurer Stärke der Eindruck, ich würde deutlich hören, wie dieses Lächeln wie eine Eierschale zerbrach. Dabei hatte ich den Blick von ihr und auch von Dr. A. abgewendet und sah hinüber auf die Glückwunschkarten zum fünfzigsten Geburtstag, den er offenbar kürzlich gefeiert hatte, auf seine Bücher, auf die Fotos von seinen Angehörigen, irgendwohin – nur nicht nach meiner Mutter. Deshalb bin ich mir nicht sicher. Ich weiß nur, es geschah einige Zeit, bevor sie wieder das Wort ergriff.
„Was Sie mir da sagen, heißt also“, sagte sie schließlich mit einer bissigen Bedächtigkeit, die mir auch in der Erinnerung noch den Atem verschlägt, „dass man tat - sächlich nichts tun kann.“ Nach einer Pause fügte sie hinzu: „Dass ich nichts tun kann“ Dr. A. antwortete nicht direkt, aber sein Schweigen war, wie man so sagt, beredt. Ein paar Minuten später, nach der obligaten Aufforderung an meine Mutter, wiederzukommen, wenn sie sich überlegt hatte, was sie als Nächstes tun „wolle“ – mir fällt ein, dass ich dieses „wollen „ besonders grotesk fand –, gingen wir hinaus. Das Schweigen, in dem wir zum Wagen gingen, überstieg alles, was ich mir hätte vorstellen können oder je erlebt hatte. Auf der Fahrt nach Downtown starrte sie aus dem Fenster. Schließlich, nach vielleicht fünf Minuten, wandte sie sich wieder mir zu.
„Wow“, sagte sie. „Wow.“
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Literaturangabe:
RIEFF, DAVID: Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sontag. Übersetzt aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Carl Hanser Verlag, München 2009. 160 S., 17.90 €.
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