Von Gisela Ostwald
Als die Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison vor wenigen Jahren gefragt wurde, ob sie ihr Meisterwerk schon geschrieben habe, antwortete sie: „Noch nicht, es kommt noch“. Ihr neunter Roman, „Gnade“, der an diesem Freitag (12. März) in einer Übersetzung von Thomas Piltz erscheint, ist ein Meisterwerk. Er knüpft an „Menschenkind“ an, Morrisons bisher bekanntestes Werk, für das sie 1988 mit dem Pulitzerpreis belohnt wurde. Die „New York Times“ kürte „Beloved“ („Menschenkind“) erst 2009 zum „besten Roman der letzten 25 Jahre“.
„Gnade“ ist die Geschichte von vier Frauen, die knapp 100 Jahre vor der Gründung der Vereinigten Staaten - und rund 200 vor dem Geschehen in „Menschenkind“ - in der gesetzlosen Welt von Amerika zu überleben versuchen. Das Ende des 17. Jahrhunderts sind die Anfangsjahre der Kolonialisierung und der Sklaverei. Damals, sagt Morrison, hätte der Handel mit Menschen noch gestoppt und der Rassismus, aus ihrer Sicht das Grundübel Amerikas, verhindert werden können.
Warum er dennoch seinen Lauf nimmt, zeigt die wohl größte US- Schriftstellerin der Gegenwart am Beispiel des Holländers Jacob Vaark. Als Waise in einem Heim groß geworden, hat er sich das Mitgefühl für Menschen bewahrt, deren Leben ebenfalls unter einem schlechten Stern begann. Von einem Onkel, den er nie persönlich kennengelernt hat, erbt Jacob Land in Virginia. Zur Bewirtschaftung kauft er eine Indianerin, deren Familie durch die Pocken ausgelöscht wurde. Lina ist 14 und Waise wie er.
Als nächstes lässt sich Jacob gegen Entgelt eine Frau aus England kommen. Die 16-jährige Rebekka krempelt ebenfalls die Ärmel hoch, schuftet und bringt mehrere Kinder zur Welt. Doch nur eine Tochter lebt. Als auch sie mit fünf Jahren stirbt, erlischt in Rebekka die Freude am Leben. Von einem Besuch bei einem reichen Sklavenhändler bringt Jacob ein junges Mädchen mit nach Hause. Florens ist die Stimme, die Morrison am häufigsten zu Wort kommen lässt.
Außer ihr nimmt sich der mitleidige Gutsherr auch des Mädchens Sorrow an, das halbtot aus dem Fluss gezogen wird. Die vier Frauen beackern das Land, während Jacob fast nur noch auf Reisen ist. Von Geldsucht getrieben, überwindet er irgendwann seine Abneigung gegen den Sklavenhandel und beteiligt sich an dem schmutzigen Geschäft.
Für Morrison ist dies der Sündenfall, der die Vertreibung aus dem Garten Eden nach sich zieht. Jacob erkrankt an den Blattern und stirbt. Für die vier Frauen bedeutet sein Tod, allein und schutzlos der Wildnis, der Gesellschaft und möglicher Gewalt ausgeliefert zu sein. Als auch Rebekka Symptome der Krankheit zeigt, wird Florens in die Ferne geschickt, um einen jungen Schmied zu holen, der ein Mittel gegen die Blattern kennt.
Das Unternehmen gelingt, wenn auch anders, als gedacht. Florens, die junge Sklavin, befreit sich von ihrem inneren Dämon, der Liebe und „sklavischen“ Abhängigkeit von dem Schmied. Sie macht sich frei. Derweil gesundet Rebekka zwar körperlich, ist aber geistig und emotional am Ende. Sie, die Freie und nominelle Herrin, ist am Ende die einzige „Sklavin“, Gefangene ihrer Ängste und Enttäuschungen.
Literaturangabe:
MORRISON, TONI: Gnade. Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Piltz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2010. 224 S., 18,95 €.
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