DORON, LIZZIE: Es war einmal eine Familie. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009. 142 S., 16,90 €.
Von Roland H. Wiegenstein
„Es gibt auf der Welt gute Menschen, böse Menschen und Menschen, die in Auschwitz waren“: Das hat Helena gesagt, deren Schiwa, das siebentägige Trauergedenken, ihre Tochter Elisabeth in ihrem alten Viertel in Tel Aviv begeht, aus dem sie 1973, siebzehn Jahre zuvor, weggezogen war in einen anderen Bezirk, denn die, die im alten Viertel wohnen (oder wohnten), waren alle in Auschwitz oder Bergen-Belsen oder Maidanek. „‚Wenn man hier abends aus einem Haus Lachen oder Plaudern hört, wenn man hier durch die Fensterläden den Duft von Kaffee und Kuchen auffängt, ist das ein Zeichen, dass wieder einer von uns gegangen ist.’ Ich schwieg. ‚Du brauchst nicht traurig sein’, tröstete sie mich, ‚wenn jemand von uns geht, ist das ein Anlass zum Feiern, bei uns tut der Tod weniger weh als das Leben.’“
Das hört Elisabeth von Genia, der alten Spezialistin für die Schiwa – es geht auf jede in dem Viertel, das die Jüngere, in Israel geborene, entschieden hinter sich gelassen hat. Doch um den Tod der Mutter nach jüdischer Tradition zu begehen, ist sie zurückgekommen, stellt sie sich den Nachbarn – und ihrer Geschichte. Denn die Mutter hat ihr nie etwas erzählt. „‚Ich habe nichts zu erinnern, und ich habe nichts vergessen’, antwortete ich. ‚Meine Mutter hat mir nie irgendetwas erzählt.’ ‚Ach so’, sagte Nilli und lächelte verlegen. Sie warf dem Arzt einen Blick zu und sagte leise: ‚Herr Doktor, wir haben hier einen Fall der zweiten Generation.’“
Nun erfährt sie, die aus der zweiten Generation, doch noch von dem, was den Alten, den Davongekommenen zugestoßen ist, aber auch den Klassenfreunden, die sie aus den Augen verloren hat und die in den Kriegen (zehn sind es, wenn man die beiden „Intifada“-Aufstände mitrechnet, seit 1948, als der erste, der Unabhängigkeitskrieg, begann) gefallen sind. Kinder dieser Alten sind noch in den Lagern zur Welt gekommen oder schon in Israel. „‚Am ersten Januar ist die Jahreszeit von Pepa, am zweiten der Gedenktag von Kube, am dritten dieses Monats der von Selig, am vierten gedenke ich meines Vaters, am fünften ist der Gedenktag von Golda, danach kommt der meiner Mutter, nach ihr Nina … Sogar am Schabbath’, betonte sie, ‚habe ich keine Ruhe.’ Sie stand da und zählte alle Namen auf, die in dem kleinen Kalender standen. ‚Du siehst, ich habe keinen Tag frei für noch eine Jahreszeit, und ich habe keinen Platz für ein weiteres Seelenlicht.’ Mit zitternder Hand deutete sie hinüber zur Kommode, wo, wie immer, Seelenlichter aufgereiht waren.“
Mag Elisabeth auch heute woanders leben, selbst Mann und Kinder haben, auch ihr Leben ist versehrt vom „hier“ (also Israel) und „dort“, den Lagern. Sie hat es nur nicht wahrhaben wollen, sie, die sich auf der Schule stolz zu den „Sabre“ rechnete, als später die Ankömmlinge aus Polen kamen, die dort vor dem Antisemitismus geflohen waren und welche die Kinder bitter respektlos „Seife“ nannten. Elisabeth hat wie alle in der israelischen Armee gedient – und sie wurde von ihrem Kommandeur in die Häuser geschickt, um dort zu verkünden, dass wieder einer der Söhne gefallen war. Auch dabei erfährt sie, was eigentlich die „Familie“ des Viertels, der Straße zusammengehalten hat: die Erinnerung, das Leid über die neuen und alten Toten, die bei jeder Schiwa alle wieder aus dem Gedächtnis auftauchen, aus eigener Erinnerung und der ihrer Nachbarn, die zum Kondolieren kommen, denn das muss sein: Man kommt ein paar Stunden, trinkt Kaffee, isst Kuchen und erzählt: Da sind sie alle wieder da, die Toten. Auch mit ihren kleinen Feindschaften, dem unendlichen Gerede, dem lauten Gebrüll von Haus zu Haus, aber auch dem Geigenspiel von Dovel, der gefallen ist. Elisabeth holt alles nach, was sie verdrängt hat – und worüber die Mutter, auch sie eine von „dort“, nie gesprochen hat, weil ihre Tochter „noch zu klein“ sei.
Am Ende begreift die Ich-Erzählerin, dass auch sie zur „Familie“ gehört. „‚Die Deutschen haben wir hier besiegt, nicht mit Kanonen, nicht mit Panzern und nicht mit Flugzeugen. Wir haben sie besiegt, indem wir Familien gegründet und Kinder auf die Welt gebracht haben. Und jetzt, da man unsere Kinder tötet, verlieren wir auch den Krieg von damals.’ Und da, in meinem Zimmer, sie auf den Stuhl und ich auf den Bett, hörte ich zum ersten Mal in meinem Leben zu – und verstand.“
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Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron, geboren 1953, hat ihr Buch „Es war einmal eine Familie“ über die verlorene Generation geschrieben, die traumatisiert „überlebt“ hat, und über deren Kinder, die zweite, welche die Traumata der Eltern durch den Wechsel des Stadtteils hat überwinden wollen – und es nicht kann. Es ist ein einfaches Buch geworden, das in lauter kurzen Kapiteln erzählt, lauter kleine, herzzerreißende, auch komische Geschichten – Geschichten, in denen „die Geschichte“ nicht vorkommt, oder nur als die von „dort“ – und als unbegriffener, leidvoller Krieg, der die jungen Leute wegrafft. Vom Jom-Kippur-Krieg wissen sie nur, dass er an einem hohen Feiertag begann. Es sind alles kleine Leute, die sich zur Schiwa versammeln, zu den Erinnerungen, in denen die Toten zu leben beginnen. Sie wissen nichts von Politik, gar von Weltpolitik, von Anwar al Sadat. Allenfalls die große Golda Meir haben sie gekannt. Aber wir hier, die wir mit anderen Maßstäben messen, sollen verstehen, was Israel auch ist. Lizzie Doron erzählt uns davon. Verstehen wir nun mehr?
Weblink: Suhrkamp Verlag