MÜNCHEN (BLK) – Im August 2008 ist im Carl Hanser Verlag der Roman „Das Museum der Unschuld“ von Orhan Pamuk erschienen.
Klappentext: Kemal, ein junger Mann aus der Oberschicht Istanbuls, verfällt der Liebe zu einer armen Verwandten - der blutjungen, naiven und wunderschönen Füsun. Was als Affäre begonnen hat, wächst sich bald zu einer Obsession aus, doch das hindert Kemal nicht daran, die Beziehung mit seiner Verlobten fortzuführen. Nach dem rauschenden Verlobungsfest lässt sich die Geliebte nicht mehr blicken. Verzweifelt erkennt Kemal, dass er Füsun über alles liebt. Doch es ist zu spät. Der Nobelpreisträger Orhan Pamuk erzählt in seinem großen Liebesroman von einer Gesellschaftsschicht der Türkei, die in vielem ganz und gar westlich scheint und doch noch traditionelle Züge trägt - ein Kontrast, der subtile Ironie erzeugt.
Orhan Pamuk wurde am 7. Juni 1952 in Istanbul geboren; Studium der Publizistik und Architektur an der dortigen Universität, mehrjähriger Aufenthalt in New York. Orhan Pamuk lebt in Istanbul. Auszeichnungen: Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2005); Ricarda-Huch-Preis (2005); Nobelpreis für Literatur (2006). (jud)
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag©
2. Boutique Champs-Élysées
Die Geschehnisse und Zufälle, die meinem Leben einen anderen Verlauf geben sollten, nahmen einen Monat vorher ihren Anfang, nämlich am 27. April 1975, dem Tag, an dem ich zusammen mit Sibel in einem Schaufenster eine Handtasche der berühmten Marke Jenny Colon sah. Meine Fastverlobte und ich genossen in der Valikonaðý-Straße den lauen Frühlingsabend, und beide waren wir etwas angeheitert und sehr glücklich. Im Fuaye, einem neueröffneten schicken Restaurant im Stadtteil Niþantaþý, hatten wir gerade beim Abendessen mit meinen Eltern ausführlich die Verlobungsvorbereitungen besprochen. Die Feier sollte Mitte Juni stattfinden, damit auch Sibels in Paris wohnende Freundin Nurcihan daran teilnehmen konnte, mit der sie in Istanbul bei den Dames de Sion zur Schule gegangen war und in Paris studiert hatte. Bei Ýpek, damals einer der angesehensten und teuersten Schneiderinnen von Istanbul, hatte Sibel schon längst ihr Verlobungskleid bestellt. Meine Mutter hatte mit Sibel zum erstenmal darüber beratschlagt, wie die Perlen, die sie ihr dafür geben würde, in das Kleid eingearbeitet werden sollten. Mein zukünftiger Schwiegervater wollte seinem einzigen Kind eine Verlobung ausrichten, die nicht minder prächtig ausfallen sollte als die Hochzeit selbst, und davon war meine Mutter sehr angetan. Mein Vater wiederum war hocherfreut über eine Schwiegertochter, die in Paris an der Sorbonne studiert hatte (wenn aus der Istanbuler Bourgeoisie jemand seine Tochter in Paris studieren ließ, dann hieß es grundsätzlich, sie sei „an der Sorbonne“).
Ich war dabei, Sibel nach dem Essen nach Hause zu bringen, und dachte gerade voller Stolz, den Arm liebevoll um ihre Schulter gelegt, was für ein Glückspilz ich doch war, als Sibel plötzlich ausrief: „Schau mal, die schöne Tasche!“ Wenn auch mein Kopf vom Wein schon etwas benebelt war, merkte ich mir sogleich den Laden und die Tasche, um jene am Tag darauf zu erstehen. Eigentlich gehörte ich ja nicht zu den galanten Männern, die aus ganz natürlichem Antrieb eine Frau mit Geschenken verwöhnen und ihr beim geringsten Anlass Blumen schicken, aber vielleicht wollte ich so einer werden. In Vierteln wie Þiþli, Niþantaþý und Bebek eröffneten damals gelangweilte Societydamen nicht Kunstgalerien, sondern Boutiquen, in denen sie aus Elle, Vogue oder Burda abgekupferte oder aber kofferweise aus Paris oder Mailand eingeflogene Kleider und nachgemachten Modekram zu aberwitzigen Preisen an andere gelangweilte, aber solvente Hausfrauen zu verhökern suchten. Þenay, die Besitzerin der Boutique Champs-Élysées, erinnerte mich, als ich sie Jahre später besuchte, geflissentlich daran, dass sie genau wie Füsun mütterlicherseits sehr weitläufig mit uns verwandt war. Mein gesteigertes Interesse an allen Gegenständen, die mit Füsun und der Boutique Champs-Élysées zu tun hatten – dieses Ladenschild inklusive –, nahm Þenay ungerührt zur Kenntnis, und sie händigte mir auch alle gewünschten Gegenstände aus, ohne nach den Gründen dafür zu fragen. Ich konnte mich daher des Gefühls nicht erwehren, dass über so manche Seltsamkeit meiner Beziehung zu Füsun nicht nur sie Bescheid wusste, sondern ein viel größerer Personenkreis, als ich vermutet hätte.
Als ich am nächsten Tag gegen halb eins die Boutique ChampsÉlysées betrat, ertönte das Klingeln einer kleinen bronzenen Türglocke mit zwei Klöppeln, das mir noch heute das Herz klopfen lässt. Bei der Mittagshitze draußen wirkte das Ladeninnere angenehm dunkel und kühl. Erst dachte ich schon, es sei niemand da. Dann sah ich Füsun. Während meine Augen sich noch an das Halbdunkel gewöhnen mussten, schwoll mir das Herz schon bis zum Mund an wie eine riesige, auf den Strand zurollende Welle.
„Ich hätte gern die Tasche da an der Schaufensterpuppe.“
Ein ausgesprochen hübsches Mädchen, dachte ich, sehr attraktiv.
„Die cremefarbene Jenny-Colon-Tasche?“
Erst als sie mir gegenüberstand, erkannte ich sie.
„Die an der Schaufensterpuppe“, wiederholte ich wie im Traum.
„Augenblick“, sagte sie und ging zum Schaufenster. Rasch streifte sie links ihren gelben, hochhackigen Schuh ab, setzte den nackten Fuß mit den sorgfältig rotlackierten Nägeln auf den Schaufensterboden und beugte sich zu der Puppe vor. Ich sah zuerst auf den verlassenen Schuh und dann auf ihre langen schönen Beine. Sie waren schon im April braungebrannt.
Der gelbe Rock mit den Spitzen wirkte wegen ihrer langen Beine besonders kurz. Sie holte die Tasche, ging damit hinter den Ladentisch, öffnete mit ihren langgliedrigen, geschickten Fingern den Verschluss, zeigte mir geheimnistuerisch und übertrieben ernst – als gewähre sie mir Einblick in etwas ganz Intimes – das Tascheninnere (es kamen cremefarbene Knäuel Seidenpapier zum Vorschein), die beiden Nebenfächer (sie waren leer) und ein Geheimfach, in dem sich ein Papier mit der Aufschrift „Jenny Colon“ und eine Pflegeanleitung befanden. Einmal kreuzten sich unsere Blicke.
„Hallo Füsun. Du bist ganz schön groß geworden. Du hast mich wohl nicht erkannt.“
„Doch, Kemal, ich habe Sie sofort erkannt, aber da Sie nichts gesagt haben, wollte ich nicht aufdringlich sein.“
Wir stockten. Ich sah auf die Stelle in der Tasche, auf die sie gerade gedeutet hatte. War es die Schönheit des Mädchens, war es ihr für damalige Zeiten erstaunlich kurzer Rock oder irgend etwas anderes, jedenfalls gelang es mir nicht, mich natürlich zu verhalten.
„Wie geht’s dir denn so?“
„Ich bereite mich auf die Zulassungsprüfung für die Uni vor. Und jeden Tag bin ich hier im Laden, da komme ich unter Leute.“
„Wunderbar. Wieviel soll jetzt die Tasche da kosten?“
Sie sah auf die Unterseite der Tasche und las von dem handgeschriebenen kleinen Etikett mit gerunzelter Stirn den Preis ab: „Tausendfünfhundert Lira.“ (Das entsprach damals ungefähr dem halben Jahresgehalt eines kleinen Angestellten.) „Aber ich bin sicher, dass Þenay die Tasche für Sie etwas runtersetzt. Sie ist zum Mittagessen nach Hause gegangen. Ich kann sie jetzt nicht anrufen, vielleicht schläft sie. Aber wenn Sie gegen Abend noch mal vorbeischauen …“
„Schon gut“, sagte ich, und in einer Geste, die Füsun später an unserem geheimen Treffpunkt noch oft karikieren sollte, zog ich aus der hinteren Hosentasche meine Brieftasche und entnahm ihr die feuchten Geldscheine. Füsun verpackte die Tasche geschäftig, wenn auch nicht sehr fachmännisch, und steckte sie dann in eine Plastiktüte. Sie war sich wohl bewusst, dass ich, während sie da schweigend hantierte, auf ihre langen braunen Arme achtete und mir keine ihrer raschen, grazilen Bewegungen entgehen ließ. Dann reichte sie mir vornehm die Tüte, und ich bedankte mich. „Einen schönen Gruß an Tante Nesibe und an deinen Vater“, sagte ich noch (der Name von Onkel Tarýk fiel mir gerade nicht ein). Kurz hielt ich inne: Mein zweites Ich stand mit Füsun in einer Ecke und küsste sie traumverloren. Schnell ging ich zur Tür. Was für ein Unsinn! Und so hübsch war Füsun gar nicht. Als die Türglocke schellte, hörte ich einen Kanarienvogel zwitschern. Ich trat auf die Straße, die Wärme draußen tat mir gut. Mit meinem Geschenk war ich zufrieden. Ich liebte Sibel sehr, und Füsun würde ich schnell vergessen.
© Carl Hanser Verlag ©
Literaturangaben:
PAMUK, ORHAN: Das Museum der Unschuld. Roman. Übersetzt aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Carl Hanser Verlag, München 2008. 576 S., 24,90 €
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Rezension
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