Von Claudia Kotte
Ein Buch wie eine Reise! Man schlägt es auf und taucht ein in den Dunst rauchgeschwängerter Tempel, sieht förmlich eine aufgeplatzte Pomelo vor sich, riecht Tigerbalsam und Räucherstäbchen, hört das Kreischen der Zikaden. Auf den ersten zwei Seiten von Alice Greenways „Weiße Geister“ kündigt sich bereits all das an, wonach dieser Roman riecht, schmeckt und klingt. Es ist eine Elegie über das Ende der Kindheit, und dies vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges und des Vormarsches der Rotgardisten in Hongkong. Wie die Papierschiffchen, die die Fischer im Hafen von Hongkong zu Wasser lassen, erinnert „Weiße Geister“ an die Vermissten auf See.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der knapp 13-jährigen Kate, die rückblickend – sie ist inzwischen Mutter und längst aus Hongkong fortgezogen – das traumatische Ereignis eines Sommers rekapituliert. Nichts und niemand wird der Erzählerin das wiederbringen können, was in diesem Sommer verloren ging, und dieser Schwermut wohnt dem Roman von Anfang an inne. „Es ist die Zeit, an die ich denken werde, wenn ich sterbe, so wie sich andere vielleicht einen verlorenen Liebhaber ins Gedächtnis rufen oder einer Liebe nachtrauern, die nie zustande kam. Für mich gibt es nur eine Geschichte. Es ist die Geschichte meiner Schwester – Frankies Geschichte.“
Frankie ist nicht nur älter als Kate, sondern auch üppiger, größer, stärker. Frankie ist der renitente Teenager, der halbnackt durch die Gegend läuft und in der Kirche plötzlich einen Gibbons-Affen nachäfft. Krieg und Überleben sind zunächst nur ein Spiel der beiden Schwestern, doch der Tod ist auf sehr reale Weise immer präsent. Gleich auf den ersten Seiten spült das Meer unversehens eine Frauenleiche an.
Begegnungen mit dem Tod macht auch der Vater der beiden, und dies gleich hundert- oder tausendfach. Als Kriegsfotograf für das „Time Magazine“ berichtet er von den Kämpfen in Vietnam und erzählt seinen Töchtern – wenn er alle sechs Wochen einmal für wenige Tage bei ihnen ist – Gute-Nacht-Geschichten über Mao und Ho Chi Minh.
Auch die chinesische Kinderfrau wird nicht müde, von den Gräueln der chinesischen Rotgardisten zu berichten. Die Mutter dagegen baut sich mit naiven Landschaftsaquarellen einen Schutzwall gegen Grausamkeit und Gewalt. Alle drei werden in diesem Sommer die Töchter nicht vor einem Zwischenfall schützen können, der ihrer Abenteuerlust und den politischen Umständen geschuldet ist.
Wie ihr Vater suchen die Schwestern den Reiz des Gefährlichen, entwischen ihrer Amme und wagen sich auf eine Demonstration vor, bei der das Unglück seinen Lauf nimmt. Denn während zwei Männer Frankie in Gewahrsam nehmen, schicken sie Kate mit einer Tüte Litschis – und Sprengstoff – ins Freie. Was dann passiert, bleibt das Geheimnis der beiden Mädchen. So gerne Kate auch von ihrer Schuld erzählen möchte, so unnahbar bleiben die Eltern. Mit den Gräueln, die der Vater in Vietnam erlebt, können ihre Erfahrungen unmöglich mithalten.
Frankie dagegen reagiert auf den Zwischenfall mit noch größerer Renitenz. Sie drängelt und prahlt, flirtet und trotzt. Beide Mädchen buhlen um die Liebe ihrer Eltern, und man ahnt nach den ersten Seiten, dass dieser Wettkampf zuungunsten von Frankie ausgehen wird. Die Forschheit, immer die erste sein zu wollen, wird ihr zum Verhängnis.
Dass Frankies Geschichte eine so dramatische Wendung nimmt, ist alles andere als ein billiger schriftstellerischer Trick. Überhaupt ist Melancholie in diesem Roman keine Pose, sondern die ernsthafte Auseinandersetzung mit einem traumatischen Erlebnis. Der Vater fotografiert, die Mutter malt, und Kate versteht es wunderbar, in ebenso poetischer wie knapper Sprache die Atmosphäre Hongkongs heraufzubeschwören: die schlammige Flusserde, die verworrenen Schlingpflanzen, die Balzrufe der Frösche, das einlullende Schwappen der Wellen.
So sinnlich und exotisch ihre Beschreibungen, so unemotional und reduziert ihr Stil. Kurze aneinandergereihte Sätze spiegeln ihre Verwirrung wider und beschwören das Verschwinden einer Ära. Es ist ein atmosphärisch aufgeladener Ton, der dennoch nicht die Tristesse um ihrer selbst willen kultiviert.
Alice Greenway ist selbst Tochter eines Auslandskorrespondenten – ihr Vater verließ als einer der letzten Kriegsreporter Saigon, und die Familie lebte abwechselnd in Thailand, Israel, Hongkong und den USA. Alice Greenway kehrte in den späten 1980er Jahren nach Hongkong zurück, wo sie als Journalistin für die „South China Morning Post“ arbeitete. Ihr Roman hat jedoch wenig mit den Expat-Visionen eines Graham Greene gemein und ist eine ganz andere Version des „Stillen Amerikaners“: Die Erzählerin verspottet höchstens die pseudo-mondäne, gewalt-gierige Haltung der ausländischen Journalisten und erinnert immer wieder an den penetranten Leichengeruch in Vietnam, an Bombenkrater und von Landminen verkrüppelte Bettler, zerfetzte Körper und weggerissene Gesichter.
Greenways zweiter Roman ist dem Verlag zufolge in Arbeit. Man darf sich auf ihn freuen.
Literaturangabe:
GREENWAY, ALICE: Weiße Geister. Roman. Aus dem Englischen von Uwe-Michael Gutzschhahn. mare Verlag, Hamburg 2009. 224 S., 19,90 €.
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