Von Irma Weinreich
Wahrheit kann tödlich sein. Als der Schriftsteller Richard Richter das letzte Geheimnis seines Lebens gelöst hat, jagt er sich eine Kugel in den Kopf. Auslöser für seine beinahe manische Wahrheitssuche ist ein Brief. Seine Mutter, die bei seiner Geburt starb, hat ihn geschrieben. 50 Jahre lag er hinter der Tapete versteckt. Mitte der 90er Jahre entdeckt ihn ihr Sohn. Beim Lesen wird schnell klar, sein wirklicher Vater ist ein jüdischer Kommunist namens Jakob Schneider. Der kam einst aus Sarajevo nach Wien, um im Widerstand gegen die Nazi-Diktatur zu kämpfen und wurde verraten. Von der Vaterschaft hat er nie erfahren. Unter dem Eindruck der blutigen Konflikte im zerfallenen Jugoslawien und getrieben von dem Gefühl, sein Vater könnte noch leben, bricht der Journalist und Schriftsteller Richter nach Sarajevo auf.
Igor Stiks’ Roman „Die Archive der Nacht“ ist eine gelungene Mischung aus Politthriller, Liebesgeschichte und Familientragödie. Sein Held durchlebt eine Odyssee voller fast mythischer Schicksalsschläge, denen er nicht gewachsen ist. Stiks setzt sich rigoros mit der Haltung des Westens im Balkankrieg auseinander: Dieser habe lange nicht begriffen, dass es bei der Zerstörung Sarajevos nicht allein um ethnische und religiöse Auseinandersetzungen ging, sondern dass es einen „eindeutigen Aggressor“ gab.
Dank seiner Bucherfolge hatte sich Richter noch in Wien zahlreiche Aufträge für die journalistische Berichterstattung vom Krisenherd gesichert. Angesichts des Grauens vor Ort erfasst ihn zunehmend Hilflosigkeit und Verbitterung. „Leichenfledderer“ nennt er seine Kollegen. Mehr und mehr gibt er sich dem romantischen Glauben hin, Teil dieser Stadt und ihrer Menschen zu sein.
Je mehr sich Richter aus der „Maschinerie der Medien“ befreit, umso mehr Zeit bleibt ihm für die detektivische Arbeit bei der Aufklärung seiner Familiengeschichte. Seine private Mission führt ihn schließlich auch in die Synagoge von Sarajevo, in deren Büchern er zwar den Namen seines Vaters nicht findet, jedoch einer fast biblischen Gestalt, dem alten Simon, begegnet. Die leidenschaftliche Liebe zu der jungen Schauspielerin Alma, die in Max Frischs Roman „Homo Faber“ auf der Bühne steht, dauert nur fünf Tage. Als er tatsächlich seinen Vater findet, steht er ohnmächtig vor der schrecklichen Wahrheit: Alma und er haben den gleichen Erzeuger, seine Schwester hat er als Geliebte kennengelernt. Als die Lebensgeschichte nach seiner Rückkehr aus Wien zu Papier gebracht ist, setzt Richter seinem Leben ein Ende.
„Die Archive der Nacht“ ist der zweite Roman von Stiks (Jahrgang 1977). Der Handlungsort liegt ihm besonders nahe. Der Autor, der mit seinem Buch auch ein beeindruckendes Kaleidoskop europäischer Geschichte bietet, ist selbst in Sarajevo geboren. Bei der Leipziger Buchmesse, die in diesem Jahr den Schwerpunkt Kroatien hatte, hat er sein Buch vorgestellt. In seiner Heimat erhielt er dafür den bedeutendsten Literaturpreis Kroatiens.
Literaturangaben:
STIKS, IGOR: Die Archive der Nacht. Roman. Aus dem Kroatischen von Marica Bodrozic. Claassen Verlag, Berlin 2008. 384 S., 19,90 €.
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