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Trauerarbeit

Ein ungewöhnliches und bewegendes autobiografisches Zeugnis

© Die Berliner Literaturkritik, 17.03.10

München (BLK) – Im März 2010 ist bei edition akzente im Carl Hanser Verlag Roland Barthes’ „Tagebuch der Trauer“ erschienen.

Klappentext: Wem ein geliebter Mensch stirbt, dem fehlen die Worte. Roland Barthes, einer der anregendsten Denker aus dem Frankreich des 20. Jahrhunderts, suchte nach dem Tod seiner Mutter Trost in der Sprache. Auf etwa 250 Karteikarten hielt der Philosoph der Zeichen kurze Notizen fest, die um die Tote, die Trauer und um seine Einsamkeit kreisen. Im Juni 1978 brechen die Aufzeichnungen ab, die jetzt aus seinem Nachlass ediert wurden. Entstanden ist ein ungewöhnliches und bewegendes autobiografisches Zeugnis, das eindrucksvoll die Grenze zwischen der Trauer und der Sprache abtastet.

Roland Barthes (1915-1980), Zeichen-, Kultur- und Literaturtheoretiker, Mitbegründer der Semiologie, Philosoph und Schriftsteller, gehört zu den anregendsten französischen Denkern der Nachkriegszeit. Bedeutende Schriften: „Mythen des Alltags“ (1964; frz. 1957), „S/Z“ (1987, frz. 1970), „Das semiologische Abenteuer“ (1988, frz. 1985).

Leseprobe:

©Carl Hanser Verlag©

 Vorwort

Am Tage nach dem Tod seiner Mutter am 25. Oktober 1977 beginnt Roland Barthes ein „Tagebuch der Trauer“. Er schreibt mit Tinte, manchmal auch mit Bleistift, auf von ihm selbst zurechtgeschnittene Zettel in Viertelgröße eines normalen Blatts Papier. Von diesen Zetteln hatte er immer einen Stapel auf seinem Schreibtisch.

Während der Zeit, in der er dieses Tagebuch führt, bereitet Roland Barthes seine Vorlesung am Collège de France über „Das Neutrum“ vor (Februar bis Juni 1978), schreibt den Vortrag „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“(Dezember1978), veröffentlicht zahlreiche Artikel in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften, schreibt zwischen April und Juni 1979 „Die helle Kammer“, skizziert im Sommer 1979 auf wenigen Blättern sein „Vita-Nova“-Projekt4 und plant seine auf zwei Studienjahre angelegte Vorlesung über „Die Vorbereitung des Romans“ (Dezember 1978 bis Februar 1980). Am Ausgangspunkt dieser wichtigen Werke – alle ausdrücklich unter dem Zeichen des Todes der Mutter – stehen jedesmal die Zettel des „Tagebuchs der Trauer“.

Die meisten werden in Paris und in Urt, unweit von Bayonne, verfaßt, wo sich Roland Barthes manchmal zusammen mit seinem Bruder Michel und dessen Frau Rachel aufhält. Unterbrochen wird diese Periode von einigen Reisen, vor allem nach Marokko, wohin Roland Barthes regelmäßig zu Lehrveranstaltungen eingeladen wurde und wo er sich gern aufhielt.

Dieses „Tagebuch der Trauer“, das im Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) aufbewahrt wird, kommt hier, Blatt für Blatt, vollständig zum Abdruck; wo die Zettel in Unordnung geraten sind, haben wir die chronologische Reihenfolge wiederhergestellt. Das Papierformat verlangt stets knappe Formulierungen; einige Zettel sind allerdings auf Vorder- und Rückseite beschrieben, und manchmal setzt sich der Text auf der Vorderseite mehrerer Zettel fort. Die Initialen, mit denen der Autor ihm nahestehende Personen bezeichnet, wurden beibehalten; die Klammern im Text stammen von Roland Barthes; einige Anmerkungen am Ende des Bandes erläutern den Zusammenhang oder verdeutlichen eine Anspielung.

Henriette Binger wurde 1893 geboren. Als sie Louis Barthes heiratet, ist sie zwanzig; mit zweiundzwanzig Jahren ist sie junge Mutter und mit dreiundzwanzig Kriegerwitwe. Sie stirbt im Alter von vierundachtzig Jahren.

Kein vollendetes, von seinem Autor abgeschlossenes Buch ist hier zu lesen, sondern die Hypothese eines Buches, das er sich gewünscht hatte, ein Text, der zur Ausarbeitung seines Werkes beigetragen hat und insofern Licht auf es wirft.

N. L.

 

Tagebuch der Trauer

26. Oktober 1977 – 21. Juni 1978

 

26. Oktober 1977

Erste Hochzeitsnacht.

Doch erste Nacht der Trauer?

 

27. Oktober

– Sie haben nie den Leib des Weibes gekannt!

– Ich habe den Körper meiner kranken, dann sterbenden

Mutter gekannt.

 

27. Oktober

Jeden Morgen, gegen halb sieben, draußen in der Nacht das Scheppern der Mülltonnen.

Erleichtert sagte sie: Endlich ist die Nacht vorbei (sie litt unter der Nacht, allein, unsagbar).

 

27. Oktober

– SS: Ich werde dich bei der Hand nehmen, ich werde dir Ruhe verordnen.

– RH: Seit sechs Monaten warst du niedergeschlagen, weil du es wußtest. Trauer, Depression, Arbeit etc. – aber diskret, wie gewohnt.

Verstimmung. Nein, Trauer (Depression) ist etwas ganz anderes als eine Krankheit. Wovon wollen sie mich heilen? Um in welchen Zustand, in welches Leben zurückzukehren? Wenn Trauer eine Arbeit ist, so ist derjenige, der daraus hervorgeht, kein fades, sondern ein moralisches Wesen, ein wertvolles Subjekt – und kein integriertes.

 ©Carl Hanser Verlag©

Literaturangabe:

BARTHES, ROLAND: Tagebuch der Trauer. Hanser Verlag, München 2010. 272 S., 21,50 €.

 

Weblink: Hanser Verlag


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