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Traumatische Jünglingsjahre

Aharon Appelfelds „Blumen der Finsternis“

© Die Berliner Literaturkritik, 07.01.09

 

Der Zweite Weltkrieg ist auf seinem Höhepunkt. In einem Ghetto im Südosten Europas lebt der elfjährige Hugo mit seiner Mutter, die ihn unbedingt vor der Deportation schützen will, welche in einem immer dramatischeren Maß stattfinden. Hugos Freunden Anna und Otto gelingt die Unterbringung bei diversen Bauernfamilien – und somit die Flucht in ein gleichermaßen ungewisses Schicksal wie es Hugo erwartet. Denn die Tante, die ihn aufnehmen sollte, wird in letzter Minute deportiert und Hugos Mutter gibt ihn in die Obhut einer alten Schulfreundin, Mariana, die in einem Freudenhaus arbeitet und lebt.

In ihrem Hinterzimmer findet Hugo Unterschlupf und lebt über ein Jahr in Dunkelheit, Angst und Kälte, Zustände, die lediglich manchmal von Mariana unterbrochen werden. Denn wenn diese keine Kundschaft hat – meist deutsche Soldaten auf der Suche nach Juden – bringt sie Hugo belegte Brote und lässt ihn ab und an sogar in ihrem Bett schlafen. Hugo erlebt das Geschehen in Marianas Zimmer nur akustisch und versteht erst mit der Zeit, was dort eigentlich vor sich geht.

Mariana übernimmt währenddessen nicht nur eine Mutterrolle, sondern sieht in Hugo auch ihren Vertrauten und Liebhaber. Wenn sie betrunken ist, erträgt sie die Erniedrigungen ihrer Arbeit und öffnet sich Hugo nach und nach, indem sie ihm von ihrer traumatischen Jugend und von ihrem ungebrochenen Glauben erzählt.

Das Jahr in der Kammer wird aus Hugos Perspektive lakonisch, aber dennoch emotional geschildert. Eindringlich sind die Beschreibungen seiner Tagträume von seinen Eltern, Anna und Otto aus vergangenen Zeiten. Er stellt sich die optischen Veränderungen seiner Familie vor, empfängt visionsartige Warnungen von ihnen und füllt so seine einsamen Tagen. Nicht im Stande zu lesen, zu rechnen oder Schach zu spielen, wie er seiner Mutter versprochen hat, besteht Hugos Dasein einzig aus den Wahrnehmungen aus dem Nebenraum, seinen Träumen und Marianas Besuchen.

Als das Kriegsende naht und die Deutschen von den Russen vertrieben werden, befinden sich die Frauen aus dem Freudenhaus in Lebensgefahr, denn sie haben ja schließlich mit den Deutschen „kollaboriert“. Lange planen Mariana und Hugo ihre Flucht und ein neues Leben auf dem Land. Als sie schließlich in die Wälder aufbrechen, und die Situation zunehmend aussichtsloser wird, ist es Mariana, die ununterbrochen an ihrem Gottesglauben festhält und trotz allem die Hoffnung auf ein besseres Dasein nicht aufgeben will. Zwar ist sie sich ihrer Lage bewusst, lässt Hugo davon aber nichts spüren, indem sie ihm ununterbrochen, während sie sich von einem unsicheren Unterschlupf zum nächsten hangeln und sie sich nur noch mit einer regelmäßigen Zufuhr von Kognak am Geiste halten kann, von ihrem Glauben an Gott erzählt. Die Reise dauert nicht lang und die beiden kommen auch nicht sehr weit, als sie schließlich von zwei russischen Soldaten gefunden werden und Marianna zum Verhör muss, von dem sie nicht mehr wiederkommen soll – während Hugo endlich frei ist.

Die Geschichte ist so einnehmend und beklemmend, wie es Hugos Unterschlupf bei Marianna war; die Perspektive eines Kindes, aus der der Autor Appelfeld selbst den Krieg und Aufenthalt im Ghetto und in mehreren Lagern erleben musste, gibt den Mikrokosmos des Textes unmittelbar wieder. Sowohl das Jahr im Freudenhaus als auch die spätere Flucht werden auf eine lakonische und eindringliche Weise geschildert: zum einen durch die intensiven Tagträume Hugos und dessen minimalistischen Alltag, zum anderen später durch Mariannas permanente Glaubensbekundungen und ihre ungebrochene Zuversicht. Dabei wird die Erzählung zu keiner Zeit langatmig oder sentimental.

Appelfeld stapelt Hugos Eindrücke in kleinen Episoden konsequent übereinander und legt Marianas verzweifelten Optimismus obendrauf. Die einzelnen Kapitel sind teilweise nicht länger als drei Seiten; die Sicht des Kindes und der lakonische Stil des Autors kreieren eine Einfachheit des Textes, der seines literarischen Gehaltes in keinem Moment entbehrt. Denn Hugo ist kein Kindserzähler im klassischen Sinne. Seine Wahrnehmung ist gespickt mit ernsthaften und weitsichtigen Kommentaren, obwohl er die Worte und Geschehnisse, die ihn umgeben, nicht immer genau einordnen kann.

Für einen Moment glaubte Hugo, bald sei der Krieg vorbei und jeder von ihnen werde nach Hause und in sein normales Leben zurückkehren. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass das, was einmal war, nicht mehr wiederkommen würde. Die Zeit im Ghetto und im Versteck hatte schon Spuren in ihm hinterlassen, die Wörter, die er benutzte, waren kraftlos. Jetzt waren es nicht mehr die Wörter, die sprachen, sondern das Schweigen. Das war eine schwierige Sprache, doch wenn man sich mit ihr abgefunden hatte, kam keine andere gegen sie an.“

„Blumen der Finsternis“ ist nicht nur ein weiteres Zeugnis der Judenverfolgung, sondern auch ein Adoleszenzroman. Hugo durchläuft eine mentale und physische Entwicklung vom behüteten Jungen zweier Apotheker, zum heranwachsenden, selbstständigen Mann, initiiert durch den Krieg und Mariana. Er löst sich im Geiste von seinen Freunden und Eltern und macht erste sexuelle Erfahrungen, die er als solche gar nicht einordnen kann. Er wird von Mariana auf eine sehr einzigartige, aber effektive Weise auf ein selbstständiges Leben vorbereitet, was er erst im Nachhinein realisiert – ähnlich wie der Leser die Eindrücke, die dieses Buch macht, erst nach und nach wahrnimmt.

Appelfelds neustes Buch ist ein eingängiger und lesenswerter Roman, dessen Thematik trotz vielfacher Bearbeitung noch immer neue und ergreifende Facetten der Trauma- und Zeitzeugenliteratur liefert, wie dieses Buch eindeutig beweist.

Von Karolina Szczepanska

Literaturangaben:
APPELFELD, AHARON: Blumen der Finsternis. Aus dem Hebräischen von Mirijam Pressler. Rowohlt Berlin, Berlin 2008. 316 S, 19,90 €.

Verlag

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