MÜNCHEN(BLK) – Im September 2009 ist Gordon Dahlquists Roman „Das Dunkelbuch“ erschienen. Susanna Mende hat das Original „The Dark Volume“ ins Deutsche übersetzt.
Klappentext: Das neue fantastische Abenteuer von Miss Temple und ihren Gefährten. Nach dem Absturz mit einem Luftschiff erwacht Celeste Temple in einer trostlosen Fischerhütte, unversehrt, aber angefüllt mit den Erinnerungen tausend anderer Menschen. Erinnerungen an indigo-blauen Lehm und an ein diabolisches Buch aus Glas. Noch immer lauern überall Gefahren auf Celeste und ihre wagemutigen Gefährten, denn wer das blaue Glas jagt, spielt ebenso mit dem Feuer, wie die, die es besitzen. Gordon Dahlquist setzt die furiose Tour de Force seiner „Glasbücher der Traumfresser“ fort. „Das Dunkelbuch“ läuft wie ein farbenprächtiger Film vor dem inneren Auge des Lesers ab. Es vereint in sich Thriller- und Abenteuerelemente, erinnert an den viktorianischen Schauerroman ebenso wie an klassische Mantel- und Degenfilme. Vor allem ist „Das Dunkelbuch“ jedoch eines: ein gigantischer Lesespaß, der einen von der ersten bis zur letzten Seite nicht mehr loslässt.
Der 1961 in Seattle geborene Gordon Dahlquist ist als Schriftsteller und Bühnenautor tätig. Nach einer absolvierten Ausbildung am Reed College nahm er ein Dramaturgiestudium an der Columbia University in New York auf. Mit den Theaterstücken „Mesilina“ und „Delirium Palace“ hat er den Garland Playwriting Award gewonnen. Seine Filme, bei denen Dahlquist selbst Regie führte, wurden auf diversen Festivals vorgeführt. Mit seinem Debütroman „Die Glasbücher der Traumfresser“ erzielte er jubelnde Kritiken sowie Bestsellerplatzierungen in den USA. Die Mischung aus Science-Fiction, Krimi und Fantasy setzte er auch im nachfolgenden Werk „Das Dunkelbuch“ fort. (ros/kum)
Leseprobe:
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Wegen der neuen Vorschrift wusste sie nicht, wie spät es war. Die Mädchen hatten die Gewohnheit gehabt, die Treppe hinauf zu schleichen und dann, abhängig vom Tag und davon, wer vielleicht zu Hause war oder welcher Dienstbote aufpasste, in das Zimmer ihrer Mutter am Ende des Flurs oder das ihres Vaters rechterhand zu schlüpfen. Das Schlafzimmer ihrer Mutter war von dem bedächtigen Ticken einer Uhr aus chinesischem Porzellan, cremeweiß mit der Andeutung von roten Blumen, erfüllt. Wenn das Mädchen vorsichtig war und wieder nicht bemerkt wurde, konnte es sie hochheben und die Vorderseite mit dem Messingring ans Ohr halten. Vaters Räume waren völlig anders; sie wurden selten genutzt und rochen nach Tabak und Staub. Hier stand die hohe, dunkle Pendeluhr mit der Glasfront, durch die man die hin und her schwingende Metallscheibe sehen konnte. Diese Uhr schlug unveränderlich jede Stunde, und die kleine Porzellanuhr zeigte die einzelnen Minuten dazwischen zuverlässig an. Doch es war drei Tage her, dass die Kleine ihre Mutter gesehen hatte, und weitere drei Tage, dass ihr Vater sie beim Frühstück auf die Wange geküsst und der steife Kragen seines Uniformrocks sie am Kinn gekratzt hatte. Dann war er hinaus auf die Straße gegangen und hatte seine erste Zigarre an diesem Morgen angezündet. Mr. Flempton hatte beide Räume verschlossen und sämtlichen Hausangestellten mitgeteilt, dass der gesamte Flur für die drei Kinder verboten sei. Das Mädchen wusste, dass es noch andere Uhren im Haus gab, doch obwohl eine simple Frage an Cook oder an das Kindermädchen Amelia oder sogar an den strengen Mr. Flempton ihr die Zeit im Nu verraten hätte, wollte sie nicht danach fragen. Wenn sie nicht nach oben gehen und es selbst herausfinden konnte, wollte sie es gar nicht wissen. Ihre Brüder fragten alles Mögliche, bohrende Fragen - besonders Charles -, doch sie bekamen keine Antworten. Das brachte sie auf, denn sie wusste, dass es Antworten gab - ihre Eltern mussten irgendwo sein -, und sie verstand nicht, warum Menschen, denen sie vertraut hatte, der Wahrheit auf so grausame Weise aus dem Weg gingen. Stattdessen hatte sie sich jeden Tag stundenlang in ihr Schulzimmer, das ebenfalls leer war, seit man auch den Unterricht eingestellt hatte, zurückgezogen (sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt ihre Hauslehrerin Eloise gesehen hatte - es war beinahe so, als wäre sie gemeinsam mit ihren Eltern verschwunden). Da Charles den Unterricht hasste und Ronald noch zu klein war, wurde der Raum zu einem Ort, den aufzusuchen kein anderer Hausbewohner Anlass hatte. So verbrachte das Mädchen die Zeit mit Lesen und Malen und damit, aus dem Fenster hinaus auf den Platz zu schauen, wo Kutschen hielten und wieder losfuhren, als wäre die Welt nicht abgrundtief schlecht. Was sie am meisten aufregte, wenn sie sich bemühte, fleißig zu lesen oder zu zeichnen oder die Farbtöpfe zu einer Mauer aufzureihen, um mit der Sammlung geschnitzter Pferde ihres Bruders darüber zu hüpfen wie die Soldaten im Regiment ihres Vaters - das schwarze Pferd gehörte stets ihrem Vater und sprang immer am höchsten -, war, dass diese Momente, ihr Vater beim Frühstück, ihre Mutter, die ihr nach dem Nachtmahl einen Gutenachtkuss gab, die letzten für eine so lange Zeit sein sollten. Die Kleine konnte sich ihre Eindrücke von den Eltern beim Abschied nicht ins Gedächtnis zurückrufen - ihr Lächeln, ihre Stimmungen, ihre letzten, sehr wichtigen Worte. Wenn sie nur in den Schrank ihrer Mutter gelangen könnte, dann könnte sie ihre Augen schließen und ihr Gesicht an die aufgehängten Kleider schmiegen und ihren Duft einatmen. Stattdessen hatte sie den Geruch nach Dienstboten und ordentlich gescheuerten Gemeinschaftsräumen in der Nase und hörte das besorgte Flüstern aus der Küche, das verstummte, sobald sie auftauchte.
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Literaturangabe:
DAHLQUIST, GORDON : Das Dunkelbuch. Blanvalet Verlag, München 2009. 608 S., 21,95 €.
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