MÜNCHEN (BLK) — Im Mai 2009 ist im Penhaligon-Verlag Trudi Canavans Fantasy-Roman „Magie“ erschienen.
Klappentext: Tessia wächst als die Tochter eines Dorfheilers in Kyralia auf, und nichts wünscht sie sich mehr, als selbst Heilerin zu werden — sehr zum Ärger ihrer Mutter, die Tessia lieber verheiratet sehen möchte. Doch dann nimmt das Leben der jungen Frau eine dramatische Wendung! Als sie in der Burg ihres Lehnsherrn, des Magiers Lord Dakon, einen Verletzten versorgt, muss Tessia sich der brutalen Annäherungsversuche eines sachakanischen Zauberers erwehren — und gebraucht dabei instinktiv Magie. Plötzlich blickt sie einer völlig neuen Zukunft als Lord Dakons Novizin entgegen. Bei aller Begeisterung und allem Stolz über ihre unerwartete Bestimmung erkennt Tessia aber schon bald, dass mit ihren magischen Gaben auch große Gefahr einhergeht. Denn am Horizont zieht ein verheerender Krieg zwischen Kyralia und Sachaka auf — und Tessia muss schneller ihre Magie zu beherrschen lernen als je eine Novizin vor ihr …Die Vorgeschichte der Bestsellertrilogie „Die Gilde der Schwarzen Magier“.
Trudi Canavan wurde 1969 im australischen Melbourne geboren. Sie arbeitete als Grafikerin und Designerin für verschiedene Verlage und begann nebenbei zu schreiben. 1999 gewann sie den Aurealis Award für die beste Fantasy-Kurzgeschichte. Ihr Debütroman, der Auftakt zur Trilogie „Die Gilde der Schwarzen Magier“, erschien 2001 und wurde weltweit ein Erfolg. Nach ihrer zweiten Bestsellertrilogie „Das Zeitalter der Fünf“ hat Trudi Canavan mit „Magie“ nun die Vorgeschichte zu „Die Gilde der Schwarzen Magier“ vorgelegt. (köh/mül)
Leseprobe:
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Erster Teil
Es gab keine schnelle und schmerzlose Methode, eine Amputation durchzuführen, das wusste Tessia. Nicht, wenn man es richtig machte. Für eine saubere Amputation musste man einen Hautlappen schneiden, um damit den Stumpf zu bedecken, und das kostete Zeit. Während ihr Vater mit geschickten Bewegungen begann, die Haut um den Finger des Jungen herum einzuritzen, beobachtete Tessia das Mienenspiel der Menschen im Raum. Der Vater des Jungen stand mit vor der Brust verkreuzten Armen und durchgedrücktem Rücken da. Sein Stirnrunzeln konnte die Spuren von Sorge nicht ganz verbergen, doch Tessia wusste nicht, ob es Mitgefühl mit seinem Sohn war oder die bange Frage, ob er rechtzeitig mit der Ernte fertig werden würde. Wahrscheinlich ein wenig von beidem. Die Mutter hielt die andere Hand ihres Sohnes fest umklammert, während sie ihm ins Gesicht starrte. Seine Haut war gerötet, Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Wangen. Der Junge biss die Zähne zusammen, und trotz der Warnung des Heilers sah er aufmerksam zu, wie dieser arbeitete. Er hatte bisher vollkommen reglos dagesessen und weder seine verletzte Hand bewegt noch gezappelt. Kein Laut war über seine Lippen gekommen. Solche Selbstbeherrschung beeindruckte Tessia, vor allem bei einem so jungen Menschen. Landarbeiter galten als ein zähes Völkchen, aber ihrer Erfahrung nach traf das nicht immer zu. Sie fragte sich, ob das Kind in der Lage sein würde, auch weiterhin so tapfer zu sein. Schließlich würde noch Schlimmeres kommen.
Das Gesicht ihres Vaters war angespannt vor Konzentration. Er hatte die Haut des Fingers vorsichtig über das Gelenk des Knöchels zurückgezogen. Auf einen Blick von ihm nahm sie das kleine Gelenkmesser vom Brenner und reichte es ihm. Dann nahm sie ihm den Schäler Nr. 5 ab, wusch ihn und hielt die Klinge sorgfältig über den Brenner, um sie mit Hilfe des Feuers zu reinigen. Als sie aufblickte, war das Gesicht des Jungen von Falten überzogen. Tessias Vater hatte begonnen, durch das Gelenk zu schneiden. Sie hob den Kopf und bemerkte, dass der Vater des Jungen jetzt eine teigig-graue Gesichtsfarbe angenommen hatte; die der Mutter war schneeweiß. „Schaut nicht hin“, murmelte Tessia warnend. Die Frau wandte abrupt den Kopf ab.
Die Klinge traf mit einem Klacken auf das Operationsbrett. Nachdem sie ihrem Vater das kleine Gelenkmesser abgenommen hatte, reichte Tessia ihm eine gebogene Nadel, in der bereits ein feiner, aus einer Sehne gefertigter Faden steckte. Die Nadel glitt mühelos durch die Haut des Jungen, und ein Funke von Stolz glomm in Tessia auf; sie hatte sie zur Vorbereitung auf diese Operation sorgfältig geschärft, und der Sehnenzwirn war der feinste, den sie je hergestellt hatte. Sie betrachtete den amputierten Finger, der am Ende des Operationsbrettes lag: auf der einen Seite eine geschwärzte, eiternde Masse, aber das abgeschnittene Ende zeigte beruhigend gesundes Fleisch. Vor einigen Tagen hatte der Junge sich den Finger bei einem Unfall während der Erntearbeiten böse gequetscht, aber wie die meisten Dorfbewohner und Landarbeiter, die ihr Vater versorgte, hatten weder der Junge noch der Vater Hilfe gesucht, bis die Wunde sich entzündet hatte. Erst bei extremen Schmerzen akzeptierte ein Mensch die Entfernung eines Körperteils. Wenn man zu lange wartete, konnte eine solche Entzündung das Blut vergiften und zu Fieber und sogar zum Tod führen. Dass eine kleine Wunde sich als tödlich erweisen konnte, faszinierte sie. Und es machte ihr Angst. Sie kannte einen Mann, den ein bloßer verfaulter Zahn in den Wahnsinn und zur Selbstverstümmelung getrieben hatte; normalerweise robuste Frauen verbluteten, nachdem sie ein Kind geboren hatten. Sie wusste auch von gesunden Säuglingen, die ohne erkennbaren Grund zu atmen aufgehört hatten, und von Fieberkrankheiten, die sich im Dorf verbreitet und nur ein oder zwei Menschenleben gefordert hatten, während die übrigen nicht mehr als ein gewisses Unbehagen hatten erdulden müssen.
Bei der Arbeit für ihren Vater hatte sie in ihren sechzehn Jahren mehr Verletzungen, Krankheiten und Todesfälle erlebt als die meisten Frauen in ihrem ganzen Leben. Aber sie hatte auch gesehen, wie Gebrechen geheilt, chronische Krankheiten gelindert und Leben gerettet wurden. Sie kannte jeden Mann, jede Frau und jedes Kind im Dorf und im Lehen und etliche, die jenseits dieser Grenzen lebten. Sie hatte Kenntnis von Dingen, in die nur wenige eingeweiht waren. Im Gegensatz zu den meisten Einheimischen konnte sie lesen und schreiben, logische Schlüsse ziehen und … Ihr Vater blickte auf und reichte ihr die Nadel und den verbliebenen Faden. Ordentliche Stiche hielten die Hautlasche über dem Fingerstumpf des Jungen zusammen. Da sie wusste, was als Nächstes kam, nahm Tessia ein wenig Watte und Verbandszeug aus der Heilertasche und reichte sie ihm. „Nimm das hier“, sagte er zu der Mutter. Die Frau ließ die andere Hand des Jungen los und nahm von Tessias Vater etwas Verbandmull und Watte entgegen. Dann legte der den Fingerstumpf mitten auf die Watte und griff nach der Aderpresse am Arm des Jungen. „Wenn ich dies hier lockere, wird das Blut in seinem Arm seinen Rhythmus wieder finden“, erklärte er. „Sein Finger wird anfangen zu bluten. Du musst die Watte fest um den Finger drücken und gedrückt halten, bis das Blut einen neuen Pulspfad findet.“ Die Frau biss sich auf die Unterlippe und nickte. Als Tessias Vater die Aderpresse lockerte, nahmen der Arm und die Hand des Jungen langsam wieder einen gesunden, rosigen Ton an. Blut quoll zwischen den Stichen hervor, und die Mutter schloss hastig ihre Hand um den Stumpf. Der Junge verzog das Gesicht. Sie strich ihm liebevoll übers Haar.
Tessia unterdrückte ein Lächeln. Ihr Vater hatte sie gelehrt, dass es klug war, eine Familie in den Heilungsprozess einzubinden. Es gab ihnen das Gefühl, nicht vollkommen hilflos zu sein, und sie würden den Methoden, die er anwandte, weniger argwöhnisch oder geringschätzig gegenüberstehen, wenn sie daran teilhatten. Nach einer kurzen Wartezeit überprüfte ihr Vater den Stumpf, dann bandagierte er ihn fest und gab der Familie Anweisungen, wie oft die Verbände zu wechseln wären, dass sie sauber und trocken gehalten werden mussten, wenn der Junge seine Arbeit wieder aufnahm (er war nicht dumm genug, den Eltern zu sagen, sie sollten den Jungen zu Hause behalten), wann sie endgültig abgelegt werden konnten und auf welche Zeichen einer Entzündung sie achten mussten. Während er die Medikamente und zusätzlichen Verbände auflistete, die sie benötigen würden, nahm Tessia die gewünschten Dinge aus seiner Tasche und legte sie auf die sauberste Stelle des Tisches, die sie finden konnte. Den amputierten Finger wickelte sie ein und schob ihn beiseite. Patienten und ihre Familien zogen es vor, solche Dinge zu vergraben oder zu verbrennen, vielleicht weil sie sich Sorgen machten, was damit geschehen würde, wenn sie sich nicht selbst darum kümmerten. Zweifellos hatten sie die beunruhigenden und lächerlichen Geschichten gehört, die von Zeit zu Zeit die Runde machten: Angeblich experimentierten Heiler in Kyralia heimlich mit amputierten Gliedmaßen, mahlten Knochen zu magischen Tränken oder brachten es irgendwie fertig, sie wiederzubeleben. Nachdem sie die Nadel gesäubert und über dem Brenner gereinigt hatte, packte sie sie mitsamt den anderen Instrumenten wieder ein. Das Operationsbrett würde später zu Hause gesäubert werden müssen. Sie löschte den Brenner und wartete, während die Familie ihnen dankte.
Auch dies war ein gründlich einstudierter Teil ihrer Arbeit. Ihr Vater hasste es, wenn Patienten ihn mit Dankesbekundungen überschütteten. Es war ihm peinlich. Schließlich bot er seine Dienste nicht kostenlos an. Lord Dakon versorgte ihn und seine Familie im Austausch dafür, dass er sich um die Menschen seines Lehens kümmerte, mit einem Haus und mit einem Einkommen. Aber indem er ihren Dank bescheiden und geduldig entgegennahm, das wusste ihr Vater, erhielt er sich das Wohlwollen der Einheimischen. Geschenke nahm er jedoch grundsätzlich nicht an. Alle Untertanen Lord Dakons zahlten ihrem Herrn einen Zehnten, was bedeutete, dass sie Tessias Vater bereits für seine Dienste entlohnt hatten. Tessias Aufgabe bestand darin, auf den richtigen Augenblick zu warten, um sich einzuschalten und ihren Vater daran zu erinnern, dass noch mehr Arbeit auf sie wartete. Die Familie entschuldigte sich dann. Ihr Vater entschuldigte sich. Und schließlich geleitete man sie hinaus.
Aber als der richtige Augenblick näher kam, wurde draußen das Trommeln von Hufschlägen vernehmbar. Alle hielten inne, um zu lauschen. Die Hufschläge brachen ab, an ihre Stelle traten Schritte, dann ein Klopfen an der Tür. „Veran, der Heiler? Ist Veran der Heiler hier?“ Der Bauer und ihr Vater traten gleichzeitig auf die Tür zu, dann blieb ihr Vater stehen, sodass der Mann die Tür selbst öffnen konnte. Ein gut gekleideter Mann in mittleren Jahren stand davor; seine Stirn war feucht von Schweiß. Tessia kannte ihn: Keron, der Haushofmeister von Lord Dakon. „Er ist hier“, sagte der Bauer. Keron spähte in das dunkle Haus. „Deine Dienste werden im Herrenhaus gebraucht, Heiler Veran. Es ist dringend.“ Tessias Vater runzelte die Stirn, dann drehte er sich um und winkte sie zu sich. Sie griff nach seiner Tasche und dem Brenner und eilte hinter ihm her ins Tageslicht hinaus. Einer der älteren Söhne des Bauern wartete neben dem Pferd und dem Karren, die Lord Dakon ihrem Vater für Besuche von Patienten außerhalb des Dorfes zur Verfügung stellte, und der Junge stand hastig auf und zog einen Futtersack vom Kopf der alten Stute. Tessias Vater nickte ihm dankend zu, dann nahm er Tessia die Tasche ab und verstaute sie hinten im Wagen. Als sie auf den Sitz kletterten, galoppierte Keron auch schon an ihnen vorbei in Richtung Dorf. Ihr Vater nahm die Zügel und zog sie kurz an. Die Stute schnaubte, schüttelte den Kopf und setzte sich in Bewegung.
Tessia sah ihren Vater an. „Glaubst du …?“, begann sie, brach jedoch gleich wieder ab, weil ihr die Sinnlosigkeit ihrer Frage bewusst wurde. Glaubst du, es könnte etwas mit dem Sachakaner zu tun haben? hatte sie sagen wollen. Aber solche Fragen waren sinnlos. Sie würden es herausfinden, wenn sie dort ankamen. Es war schwer, sich nicht das Schlimmste vorzustellen. Seit der Ankunft des Sachakaners hatten die Dorfbewohner nicht aufgehört, über den fremdländischen Magier zu tuscheln, der Lord Dakons Haus besuchte, und es war schwer, sich von ihrer Angst und Ehrfurcht nicht anstecken zu lassen. Obwohl Lord Dakon ebenfalls Magier war, war er doch vertraut und angesehen, und er war Kyralier. Wenn man ihn fürchtete, dann nur wegen der Magie, über die er gebieten konnte, und wegen der Macht, die er über ihrer aller Leben hatte; aber er war kein Landbesitzer, der seine Macht missbrauchte. Sachakanische Magier dagegen hatten Kyralia noch vor wenigen Jahrhunderten regiert und versklavt, und allen Berichten zufolge erinnerten sie die Menschen bei jeder Gelegenheit immer noch gern daran, wie die Dinge gewesen waren, bevor Kyralia seine Unabhängigkeit gewährt worden war.
Denk wie eine Heilerin, mahnte sie sich, während der Karren die Straße entlangholperte. Analysiere die Informationen, die du hast. Vertraue dem Verstand mehr als dem Gefühl. Weder der Sachakaner noch Lord Dakon konnten krank sein. Beide waren Magier und damit bis auf wenige seltene Ausnahmen gefeit vor allen Krankheiten. Sie waren nicht immun gegen Seuchen, erlagen ihnen jedoch kaum einmal. Lord Dakon hätte ihren Vater herbeigerufen, lange bevor irgendeine Krankheit dringende Aufmerksamkeit erforderte; der Sachakaner allerdings würde möglicherweise eine Krankheit nicht offenbart haben, wenn er sich nicht von einem kyralischen Heiler hätte versorgen lassen wollen. Magier konnten an Wunden sterben, dass wusste sie. Lord Dakon konnte sich verletzt haben. Dann kam ihr eine noch erschreckendere Möglichkeit in den Sinn. Hatten Lord Dakon und der Sachakaner gegeneinander gekämpft? Wenn ja, würde das Haus des Lords — und vielleicht auch das ganze Dorf — nur mehr aus schwelenden Ruinen bestehen, sagte sie sich, falls die Geschichten über magische Schlachten der Wahrheit entsprechen.
Von der Straße, die vom Haus des Bauern hinabführte, hatte man einen guten Blick auf die Gebäude darunter, die diesseits des Flusses beide Seiten der Hauptstraße säumten. Alles war so ruhig und friedlich wie bei ihrem Aufbruch. Vielleicht waren der Patient oder die Patienten, die sie behandeln sollten, Dienstboten Lord Dakons. Abgesehen von Keron hielten sechs weitere Haus- und Stalldiener das Anwesen in Ordnung. Sie und ihr Vater hatten sie schon viele Male behandelt. Landarbeiter, die außerhalb des Dorfes lebten, fuhren manchmal zum Herrenhaus, wenn sie krank oder verletzt waren, obwohl sie im Allgemeinen direkt zu ihrem Vater kamen. Wer ist sonst noch dort? Ah, natürlich. Da wäre noch Jayan, Lord Dakons Meisterschüler, erinnerte sie sich. Aber soweit ich weiß, verfügt er über den gleichen körperlichen Schutz gegen Krankheiten wie ein höherer Magier. Vielleicht hatte er sich in einen Kampf mit dem Sachakaner verwickeln lassen. Für die Sachakaner war ein Mann wie Jayan nicht viel mehr als ein Sklave, und …
„Tessia.“ Sie sah ihren Vater erwartungsvoll an. Hatte er eine Ahnung, wer seiner Dienste bedurfte? „Ich … deine Mutter will, dass du aufhörst, mir zu helfen.“ Aus freudiger Erwartung wurde Ärger. „Ich weiß.“ Sie verzog das Gesicht. „Sie will, dass ich mir einen netten Ehemann suche und anfange, Kinder in die Welt zu setzen.“ Er lächelte nicht, wie er es früher getan hatte, wenn das Thema zur Sprache gekommen war. „Ist das so schlimm? Du kannst keine Heilerin werden, Tessia.“ Als sie den Ernst in seiner Stimme hörte, sah sie ihn überrascht und enttäuscht an. Obwohl ihre Mutter diese Meinung schon viele Male geäußert hatte, hatte ihr Vater ihr nie darin zugestimmt. Sie hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr zu Stein, in ihrem Magen, kalt, hart und unnachgiebig. Was natürlich unmöglich war. Menschliche Organe verwandelten sich nicht in Stein. „Die Dorfbewohner werden dich nicht akzeptieren“, fuhr er fort. „Das kannst du nicht wissen“, protestierte sie. „Nicht, bevor ich es versucht habe und gescheitert bin. Welchen Grund könnten sie haben, mir zu misstrauen?“ „Keinen. Sie mögen dich durchaus, aber die Vorstellung, eine Frau könnte heilen, ist ihnen genauso fremd wie die, dass einem Reber Flügel wachsen und er fliegen könnte. Es liegt nicht in der Natur einer Frau, einen klugen Kopf zu haben, denken sie.“ „Aber die Geburtsmütter … Ihnen vertrauen sie doch auch. Warum besteht ein Unterschied zwischen ihrem Geschäft und der Heilkunst?“ „Weil das, was die Geburtsmütter tun, sich auf ein kleines, genau festgelegtes Gebiet beschränkt. Vergiss nicht, die Menschen wenden sich an mich um Hilfe, wenn das Wissen einer Geburtsmutter unzureichend ist. Ein Heiler verfügt über Kenntnisse, zu denen keine Geburtsmutter Zugang hat. Die meisten Geburtsmütter können nicht einmal lesen.“ „Und doch vertrauen die Menschen ihnen. Manchmal vertrauen sie ihnen mehr als dir.“ „Das Gebären ist eine ausschließlich weibliche Fähigkeit“, erwiderte er trocken. „Das Heilen ist es nicht.“ Tessia konnte nicht sprechen. Ärger und Enttäuschung stiegen in ihr hoch, aber sie wusste, dass sie ihrer Sache durch Wutausbrüche nicht half. Sie musste überzeugend sein, und ihr Vater war kein einfältiger Dörfler, den man leicht beeinflussen konnte. Er war wahrscheinlich der klügste Mann im Dorf.
Als der Wagen die Hauptstraße erreichte, fluchte sie im Stillen. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr er sich der Meinung ihrer Mutter angenähert hatte. Ich muss seine Meinung wieder ändern, und ich muss vorsichtig dabei zu Werke gehen, überlegte sie. Er verstößt nicht gern gegen Mutters Wünsche. Also muss ich ebenso ihr Vertrauen in ihre Argumente schwächen, wie ich Vaters Zweifel an der Fortsetzung meiner Ausbildung zerstreuen muss. Sie musste alle Argumente erwägen, die für eine Zukunft als Heilerin sprachen, so wie die, die dagegen sprachen. Und dann musste sie ihre Erkenntnisse zu ihrem Nutzen einsetzen. Außerdem musste sie die Pläne ihrer Eltern bis ins Kleinste kennen. „Was wirst du tun, wenn ich dir nicht mehr helfe?“, fragte sie. „Ich werde einen Jungen aus dem Dorf zu mir nehmen“, sagte ihr Vater. „Welchen?“ „Vielleicht den Jüngsten des Müllers. Er macht einen intelligenten Eindruck.“ Er hatte also bereits über diese Frage nachgedacht. Ein Stich der Kränkung durchzuckte sie. Die gut gewartete Hauptstraße war weniger gefurcht als der Viehweg des Bauern, daher ließ ihr Vater abermals die Zügel schnalzen und drängte die Stute zu einem schnelleren Tempo. Die verstärkte Vibration des Wagens raubte Tessia die Fähigkeit zum Nachdenken. Als sie sich dem Dorf näherten, sah sie Gesichter in den Fenstern auftauchen. Die wenigen Dorfbewohner, die draußen unterwegs waren, blieben stehen und grüßten ihren Vater mit einem Nicken und einem Lächeln. Als ihr Vater die Zügel anzog, um die Stute durch die Tore des Herrenhauses zu lenken, hielt Tessia sich am Geländer des Wagens fest. In dem fahlen Licht, das im Schatten des Hauses herrschte, konnte sie Stallarbeiter ausmachen, die herbeikamen, um die Zügel zu übernehmen, sobald der Wagen stehen blieb. Ihr Vater sprang von der Sitzbank, und Keron trat vor, um die Tasche ihres Vaters entgegenzunehmen. Sie sprang ebenfalls aus dem Wagen und eilte hinter den beiden Männern her, die im Herrenhaus verschwanden.
Durch die Türen des Flurs, den sie entlanggingen, konnte Tessia flüchtige Blicke in die Küche, die Vorratskammer, das Waschzimmer und andere Arbeitsräume der Dienstboten werfen. Schnelle Schritte hallten durch ein enges Treppenhaus, während sie in den oberen Stock hinaufgingen. Einige Biegungen später gelangten sie in einen Teil des Hauses, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Geschmackvoll geschmückte Wände und kostbare Möbel ließen vermuten, dass es sich um einen Wohnbereich handelte, aber dies waren nicht die Räume, die sie vor einigen Jahren einmal gesehen hatte, als man ihren Vater ins Herrenhaus gerufen hatte, um eine ziemlich fade, reiche junge Frau zu behandeln, die einen Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Sie konnte einige Schlafzimmer und ein Wohnzimmer erkennen und vermutete, dass diese Räume für Gäste reserviert waren.
Daher überraschte es sie, als Keron eine Tür öffnete und sie in einen kleinen, nur mit einem schlichten Bett und einem schmalen Tisch möblierten Raum führte. Es gab keine Fenster, die Licht eingelassen hätten, nur eine winzige Lampe brannte im Zimmer. Der Raum kam ihr armselig und schäbig vor. Dann blickte sie zum Bett hinüber, und plötzlich waren alle Gedanken an die Einrichtung vergessen. Ein Mann lag dort. Ein Mann, dessen Gesicht so übel verschrammt und geschwollen war, dass ein Auge sich zu einem blutigen, schmalen Schlitz verengt hatte. Das Weiß des anderen Auges war dunkel. Sie vermutete, dass es bei besserem Licht rot gewirkt hätte. Die Lippen des Mannes bildeten keine gerade Linie, was wahrscheinlich ein Hinweis auf einen gebrochenen Kiefer war. Sein Gesicht schien breit und eigenartig geformt, obwohl dies eine Wirkung der Verletzungen sein konnte. Außerdem hielt er die rechte Hand an die Brust gedrückt, und sie sah sofort, dass sein Unterarm sich auf eine Weise krümmte, wie er das nicht tun sollte. Auch seine Brust war dunkel von Prellungen. Als Kleidung trug er lediglich eine kurze, zerlumpte Hose, die an vielen Stellen schlecht geflickt war. Die Haut seines schmalen Körpers war von der Sonne dunkel gebräunt, und Erde hatte seine nackten Füße schwarz gefärbt. Ein Knöchel war böse geschwollen, die Wade des anderen Beins etwas schief, als sei sie nach einem Bruch schlecht verheilt.
Im Raum war es still, bis auf die schnellen, gequälten Atemstöße des Mannes. Tessia erkannte das Geräusch, und ein flaues Gefühl stieg in ihr auf. Ihr Vater hatte einmal einen Mann behandelt, dessen Rippen gebrochen waren und die Lungen durchstochen hatten. Dieser Mann war gestorben. Ihr Vater hatte sich nicht bewegt, seit sie den Raum betreten hatten. Er stand still da, den Rücken leicht gebeugt, während er den geschundenen Mann auf dem Bett betrachtete. „Vater“, sagte sie leise. Mit einem Ruck richtete er sich auf und dreht sich zu ihr um. Als sein Blick dem ihren begegnete, wusste sie, dass sie einander verstanden. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf und stellte fest, dass er das Gleiche tat. Dann lächelte sie. In Augenblicken wie diesem, da sie nicht einmal zu sprechen brauchten, um einander zu verstehen, konnte er doch gewiss erkennen, dass sie dazu bestimmt war, in seine Fußstapfen zu treten? Er runzelte die Stirn und schaute zu Boden, dann drehte er sich wieder zu dem Bett um. Ein jähes Gefühl schmerzlichen Verlustes stieg in ihr auf. Seine Reaktion hätte eine andere sein sollen: Er hätte lächeln oder nicken oder ihr irgendein Zeichen der Beteuerung übermitteln sollen, dass sie auch in Zukunft zusammenarbeiten würden. Ich muss sein Vertrauen zurückgewinnen, dachte sie.
Sie nahm Keron die Tasche ihres Vaters ab, stellte sie auf den schmalen Tisch und öffnete sie. Nachdem sie den Brenner herausgenommen hatte, zündete sie ihn an und stellte die Flamme richtig ein. Draußen im Flur erklangen Schritte. „Wir brauchen mehr Licht“, murmelte ihr Vater. Sofort wurde der Raum erfüllt von einem blendend weißen Licht. Tessia duckte sich, als ein leuchtender Ball sich an ihrem Kopf vorbeibewegte. Sie starrte ihm nach und bereute es sofort. Das Licht war zu hell. Als sie den Blick abwandte, trübte ein runder Schatten ihre Sicht. „Wird das genügen?“, erklang eine Stimme mit einem eigenartigen Akzent. „Vielen Dank, Herr“, hörte sie ihren Vater respektvoll sagen. Herr? Tessias Magen krampfte sich zusammen. Im Herrenhaus hielt sich gegenwärtig nur ein Mensch auf, den ihr Vater so anreden würde. Doch mit der Erkenntnis kam ein Gefühl der Rebellion. Ich werde vor diesem Sachakaner keine Furcht zeigen, beschloss sie. Obwohl wahrscheinlich keine Gefahr besteht, beim Anblick irgendeines Menschen zu erzittern, solange ich nicht richtig sehen kann, fügte sie im Geiste hinzu. Dann rieb sie sich die Augen. Der dunkle Fleck trat langsam wieder in den Hintergrund. Sie blinzelte zur Tür hinüber und sah zwei Gestalten dort stehen.
„Wie schätzt du seine Chancen ein, Heiler Veran?“, fragte eine vertrautere Stimme. Ihr Vater zögerte, bevor er antwortete. „Schlecht, Mylord“, gestand er. „Seine Lungen sind durchstochen. Eine solche Verletzung ist im Allgemeinen tödlich.“ „Tu, was du kannst“, wies Lord Dakon ihn an. Tessias Sicht war inzwischen so weit wiederhergestellt, dass sie die Gesichter der beiden Magier ausmachen konnte. Lord Dakons Miene war grimmig. Sein Begleiter lächelte. Sie konnte jetzt genug sehen, um seine breiten sachakanischen Züge zu erkennen, die kunstvoll geschmückte Jacke und die Hosen, die er trug. Sie bemerkte auch das juwelenbesetzte Messer in der Scheide an seinem Gürtel, das die Sachakaner trugen zum Zeichen dafür, dass sie Magier waren. Lord Dakon machte eine leise Bemerkung, und die beiden Männer verschwanden. Tessia hörte, wie ihre Schritte sich auf dem Flur entfernten.
Plötzlich erlosch das Licht, und sie standen im Dunkeln. Tessia hörte ihren Vater leise fluchen. Dann wurde der Raum wieder hell, wenn das Licht auch nicht mehr so grell war wie zuvor. Als sie aufblickte, sah sie Keron mit zwei großen Lampen eintreten. „Ah, danke“, sagte Tessias Vater. „Stell eine hierhin und die andere dorthin.“ „Brauchst du sonst noch irgendetwas?“, fragte der Haushofmeister. „Wasser? Tücher?“ „Im Augenblick brauche ich vor allem eins: Informationen. Wie ist das geschehen?“ „Ich bin … ich bin mir nicht sicher. Ich habe es nicht beobachtet.“ „Hat irgendjemand etwas beobachtet? Bei so vielen Verletzungen ist es leicht, eine zu übersehen. Eine Beschreibung, welche Körperteile die einzelnen Schläge getroffen haben …“ „Niemand hat etwas gesehen“, antwortete der Mann schnell. „Niemand außer Lord Dakon, diesem Sklaven und seinem Herrn.“ Ein Sklave? Tessia schaute auf den verletzten Mann hinab. Natürlich. Die gebräunte Haut und das breite Gesicht waren typisch sachakanische Merkmale. Plötzlich ergab das Interesse des Sachakaners einen Sinn.
Ihr Vater seufzte. „Dann bring uns etwas Wasser, und ich werde eine Liste von Dingen aufschreiben, die du bei meiner Frau abholen musst.“ Der Haushofmeister eilte davon. Tessias Vater sah sie mit grimmiger Miene an. „Das wird eine lange Nacht für dich und mich.“ Er lächelte schwach. „Bei Gelegenheiten wie dieser muss ich mich fragen, ob du die Vorstellungen deiner Mutter deine Zukunft betreffend nicht vielleicht doch verlockend findest.“ „Bei Gelegenheiten wie dieser kommen mir solche Überlegungen niemals in den Sinn“, beschied sie ihn. Dann fügte sie leise hinzu: „Diesmal werden wir vielleicht Erfolg haben.“ Seine Augen weiteten sich, dann drückte er die Schultern ein wenig durch. „In diesem Fall sollten wir gleich anfangen.“
Es war niemals einfach und nur selten erfreulich, für einen sachakanischen Magier den Gastgeber zu spielen. Von allen Aufgaben, die in dieser Zeit von den Dienstboten verlangt wurden, verursachte die Ernährung ihres Gastes das größte Ungemach. Wenn man Takado eine Speise servierte, die er schon einmal gegessen hatte, wies er sie zurück, selbst wenn ihm das Gericht gut geschmeckt hatte. Die meisten Speisen mundeten ihm jedoch nicht, und er hatte einen großen Appetit, sodass für jede Mahlzeit erheblich mehr Gänge zubereitet werden mussten, als sie normalerweise für zwei Personen vonnöten gewesen wären. Der Lohn dafür, dass sie die Ansprüche dieses Gastes ertrugen, war ein großer Überschuss an Essen, das im Anschluss an die Mahlzeiten unter den Mitgliedern des Haushalts aufgeteilt wurde. Wenn Takado noch viele Wochen bleibt, würde es mich nicht überraschen festzustellen, dass meine Diener ein wenig rundlich geworden sind, überlegte Dakon. Trotzdem wäre es Ihnen sicher lieber, wenn der Sachakaner weiterzöge.
Genauso wie ich, fügte er im Geiste hinzu, als sein Gast sich zurücklehnte, auf seinen üppigen Leib klopfte und rülpste. Vorzugsweise zurück in sein Heimatland, was wahrscheinlich ist, wenn man bedenkt, dass er den größten Teil Kyralias durchreist hat und dies das Herrenhaus ist, das dem Pass am nächsten liegt. „Ein hervorragendes Mahl“, erklärte Takado. „Habe ich in diesem letzten Gericht eine Spur Glockenwurz bemerkt?“ Dakon nickte. „Einen Vorteil hat es, nahe der Grenze zu leben — gelegentlich kommen sachakanische Händler hier vorbei.“ „Das überrascht mich. Mandryn liegt nicht an der Straße nach Imardin.“ „Nein, aber gelegentlich blockieren Frühjahrshochwasser die Hauptstraße, und dann führt der beste Weg mitten durch unser Dorf.“ Er wischte sich mit einem Tuch den Mund ab. „Wollen wir uns ins Wohnzimmer zurückziehen?“ Als Takado nickte, hörte Dakon einen schwachen Seufzer der Erleichterung von Cannia, die heute Abend bei Tisch aufwartete. Zumindest haben die Dienstboten diese Strapazen für heute Abend hinter sich, dachte Dakon müde, während er aufstand. Meine enden nicht, bis der Mann einschläft.
Takado erhob sich und trat vom Tisch weg. Er war einen vollen Kopf größer als Dakon, und seine breiten Schultern und das flächige Gesicht ließen ihn noch massiger erscheinen. Unter einer Schicht weichen Fetts hatte er den Körperbau eines typischen Sachakaners — stark und groß. Dakon wusste, dass er neben Takado jämmerlich dünn und klein wirken musste. Und bleich. Auch wenn die Sachakaner nicht so dunkel waren wie die Lonmars aus dem Norden, war ihre Haut doch von einem gesunden Braun, das mit Farbe zu erzielen kyralische Frauen seit Jahrhunderten versuchten. Was sie immer noch taten, obwohl die Sachakaner davon abgesehen allgemein verachtet und gefürchtet wurden. Dakon ging seinem Gast voran aus dem Speisezimmer. Sie sollten stolz sein auf ihren Teint, aber nachdem wir darin jahrhundertelang einen Beweis dafür gesehen haben, dass wir eine schwache, barbarische Rasse sind, lässt sich das wohl nicht so leicht ins Gegenteil verkehren.
Gefolgt von Takado betrat er das Wohnzimmer. Der Sachakaner ließ sich in den Sessel fallen, den er für die Dauer seines Aufenthalts als den seinen beschlagnahmt hatte. Der Raum wurde von zwei Lampen erhellt. Obwohl er den Raum mühelos mit einem magischen Licht hätte beleuchten können, zog Dakon den warmen Schein von Lampenlicht vor. Es erinnerte ihn an seine Mutter, die kein magisches Talent besessen und es vorgezogen hatte, die Dinge auf „die altmodische Art“ zu tun. Sie hatte das Wohnzimmer auch eingerichtet und möbliert. Nachdem ein anderer sachakanischer Besucher, beeindruckt von der Bibliothek, beschlossen hatte, dass Dakons Vater ihm mehrere wertvolle Bücher schenken würde, hatte sie entschieden, solche Besucher zukünftig in einem Raum zu empfangen, der den Anschein erweckte, voller unbezahlbarer Schätze zu sein, bei denen es sich jedoch in Wirklichkeit um Kopien, Fälschungen oder weniger kostspielige Dinge handelte.
Takado streckte die Beine aus und beobachtete, wie Dakon aus einem Krug, den die Dienstboten für sie bereitgestellt hatten, Wein einschenkte. „Also, Lord Dakon, denkt Ihr, dass Euer Heiler meinen Sklaven retten kann?“ Dakon nahm keine Sorge in der Stimme des Mannes wahr. Er hatte auch keine Sorge um das Wohlergehen des Sklaven erwartet — nur die Art von Anteilnahme, die ein Mann für zerbrochenes Eigentum zeigte, das repariert wurde. „Heiler Veran wird sein Bestes geben.“ „Und wie werdet Ihr ihn bestrafen, sollte er scheitern?“ Dakon reichte Takado einen Weinkelch. „Ich werde ihn nicht bestrafen.“ Takado zog die Augenbrauen hoch. „Woher wisst Ihr dann, dass er sein Bestes tun wird?“ „Weil ich ihn kenne und ihm vertraue. Er ist ein Ehrenmann.“ „Er ist Kyralier. Mein Sklave ist wertvoll für mich, und ich bin Sachakaner. Woher soll ich wissen, dass er nicht aus reiner Bosheit mir gegenüber den Tod des Mannes herbeiführen wird?“ Dakon setzte sich und nahm einen Schluck Wein. Es war kein guter Wein. Sein Lehen erfreute sich keines für den Weinbau günstigen Klimas. Aber der Wein war stark und würde den Sachakaner geneigt machen, sich möglichst früh für die Nacht zurückzuziehen. Dakon bezweifelte jedoch, dass der Wein seine Zunge lösen würde. Er hatte es auch an den vorangegangenen Abenden nicht getan. „Weil er ein Mann von Ehre ist“, wiederholte Dakon. Der Sachakaner schnaubte. „Ehre! Unter Dienstboten? Ich an Eurer Stelle würde die Tochter nehmen. Sie ist gar nicht so hässlich für eine Kyralierin. Sie wird einige Kniffe der Heilkunst gelernt haben und würde ebenfalls eine nützliche Sklavin abgeben.“
Dakon lächelte. „Es ist Euch während Eurer Reisen gewiss nicht entgangen, dass die Sklaverei in Kyralia verboten ist.“ Takado rümpfte die Nase. „Oh, das konnte mir nicht entgehen. Niemandem würde es entgehen, wie schlecht Eure Dienstboten ihrer Herrschaft aufwarten. Mürrisch. Töricht. Unbeholfen. Es war nicht immer so, und das wisst Ihr. Euer Volk hat die Sklaverei einst willkommen geheißen, als sei es seine eigene Idee gewesen. So könnte es wieder sein. Ihr würdet vielleicht den Wohlstand zurückgewinnen, an dem sich Eure Urgroßväter erfreut haben.“ Er leerte den Wein mit wenigen Schlucken und stieß dann einen anerkennenden Seufzer aus. „Seit dem Verbot der Sklaverei erfreuen wir uns eines größeren Wohlstandes denn je“, erwiderte Dakon, während er sich erhob, um ihrer beider Kelche wieder aufzufüllen. „Die Sklavenhaltung ist nicht einträglich. Wenn man sie schlecht behandelt, sterben sie, bevor sie nützlich werden; oder aber sie rebellieren oder laufen davon. Behandelt man sie gut, kostet es genauso viel, sie zu ernähren und zu beherrschen, wie es bei freien Dienstboten der Fall ist, aber sie hätten keinen Grund, ihre Arbeit gut zu machen.“ „Keinen Grund als Furcht vor Strafe oder Tod.“ „Ein verletzter oder toter Sklave ist für niemanden von Nutzen. Ich kann nicht erkennen, in wieweit es einen Sklaven ermutigen soll, in Zukunft vorsichtiger zu sein, wenn Ihr ihn totschlagt, weil er Euch auf den Fuß getreten ist. Sein Tod wäre nicht einmal ein Exempel für andere, da keine andere Sklaven hier sind, um daraus zu lernen.“ Takado ließ den Wein in seinem Kelch kreisen. Seine Miene war undeutbar. „Ich bin wahrscheinlich ein wenig zu weit gegangen. Nachdem ich monatelang mit ihm auf Reisen war, bin ich seiner Gesellschaft gründlich müde geworden. So würde es Euch ebenfalls ergehen, müsstet Ihr Euch bei dem Besuch in einem fremden Land mit nur einem einzigen Dienstboten begnügen.
©Penhaligon©
Literaturangaben: CANAVAN, TRUDI: Magie. Aus dem Amerikanischen von Michaela Link. Penhaligon, München 2009. 736 S., 19,95 €.
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