MÜNCHEN (BLK) – Im März 2011 ist beim Hanser Verlag „Engel des Südens“ von Najem Wali erschienen. Imke Ahlf-Wien hat aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt.
Klappentext: Nach dreiundzwanzig Jahren Exil kehrt Harun in seine Heimatstadt Amaria im Irak zurück. Zwischen den Ruinen, die der Krieg hinterlassen hat, stößt er auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit auf eine Inschrift, die er als Kind hinterlassen hat: "Der Engel des Südens". So nannte er das Idol seiner Jugend, eine Jüdin, die für ihn das goldene Zeitalter verkörpert, als die Ethnien und Religionen noch friedlich zusammenlebten. In dieser und unzähligen anderen Geschichten bringt Najem Walis historisch profunder und märchenhafter Roman die dramatische Vergangenheit aus Krieg, Diktatur, aber auch Sehnsucht und Hoffnung einer einst multikulturellen Stadt ans Licht.
Der 1956 im irakischen Basra geborene Najem Wali studierte deutsche Literatur an der Universität Bagdad und ist nach dem Ausbruch des Iran-Irak-Krieges 1980 nach Deutschland immigriert. Er lebt i Berlin. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Wali als Journalist. Er veröffentlicht regelmäßig in einer der wichtigsten arabischen Tageszeitungen und schreibt unter anderem für die Süddeutsche Zeitung oder Die Zeit. Wali gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der arabischen Welt. Trotz Verbots in den arabischen Staaten avancierte sein Roman „Die Reise nach Tell al-Lahm“ zum Kultroman.
Leseprobe:
©Hanser©
No man’s land
Dreiundzwanzigster Entwurf
„Sehr geehrte Gäste. Ich erlaube mir, Sie im Namen Ihrer Majestät der britischen Königin, im Namen der britischen Regierung und im Namen des Verteidigungsministers und Oberbefehlshabers der Streitkräfte Geoff Hoon, zu begrüßen. Wie Sie wissen, ist heute der 11. November, der Tag, der in unseren Herzen, als Briten, teure Erinnerungen weckt. Eine Gedenkminute lang stehen die Arbeiten in allen Bereichen des Lebens still, um des Endes des Ersten Weltkriegs am 11. November 1918 um elf Uhr zu gedenken. So erweist man den Opfern der Kampfhandlungen die Ehre. Dabei haben sie eine halbe Generation das Leben gekostet. Warum erzähle ich Ihnen das? Weil ich der befehlshabende Offizier jener militärischen Einheit bin, die man ‚No man’s land’ nennt. Uns hat man die Aufgabe übertragen, Ausgrabungen für die britische Armee durchzuführen. Damit Sie sich unsere Arbeit besser vorstellen können, werde ich sie etwas genauer erläutern. Mein Team aus Soldaten und Mitarbeitern ist auf der Suche nach den sterblichen Überresten von Soldaten, die auf den Schlachtfeldern fielen und ihr Leben für die Krone opferten. Die meisten wurden anonym in die Schützengräben geworfen. Wir wollen uns nicht damit begnügen, die Bedingungen zu erforschen, unter denen die Soldaten tagtäglich an der Front gelebt haben. ‚No man’s land’ bedeutet mehr: All jenen unbekannten Soldaten eine Identität und Biografie zu schenken, deren Leichname wir in den Schützengräben von einst finden. Sie sollen nicht dem Vergessen anheimfallen. Lassen Sie mich hinzufügen, dass meine Einheit auch deshalb so eifrig damit beschäftigt ist, der Geschichte von Schützengräben und Soldatengräbern nachzuspüren, weil die Bürger des Königreichs den im ‚Great War’ Gefallenen ein Gefühl tiefer Verbundenheit entgegenbringen. (Denn Großbritannien, Great Britain, braucht eben auch einen ‚Great War’!) Bitte verstehen Sie, dass diese Aufgabe nicht einfach ist. Bei der Entdeckung des Grabes eines unbekannten Soldaten überkommen einen immer gemischte Gefühle. Einerseits ist es ein großer Erfolg, egal ob der Soldat Türke oder Brite, Deutscher oder Franzose war. Denn unsere Arbeit beginnt genau dort, mit der Feststellung der Identität der Person, die wir finden. Nur dann können wir die Angehörigen des Soldaten anrufen und ihnen mitteilen, dass der als verschollen geltende Gefallene doch noch in allen Ehren bestattet werden kann. Andererseits möchte ich Ihnen nicht verhehlen, dass die Entdeckung von menschlichen Knochen, die jahrelang vergessen in Soldatengräbern lagen, immer sehr aufwühlend ist. Um Ihnen ein anschauliches Beispiel zu geben werde ich Ihnen erzählen, was sich vor zwei Tagen ereignet hat. Eine wirklich unangenehme Sache. Immerhin steckten wir mitten in der Befreiung des Irak (ist er also doch nicht besetzt?!), des Südirak, mitten in einer neuen Expedition, um genau zu sein. Sie stand unter dem Motto: ‚Finding the Fallen’. Wir begannen, die Leichname der Soldaten zu untersuchen. Diesmal nicht, weil man sie in den Schützengräben zurückgelassen hatte, sondern weil die Gräber, in denen sie seit vielen Jahren lagen, zerstört worden waren. Und zwar nicht nur in Bagdad. Dort hatte man den Englischen Friedhof dem Erdboden gleichgemacht und an seiner Stelle ein Mädchenkolleg gebaut – stellen Sie sich vor: ein Mädchenkolleg! Wie kann man die Toten nur so gering schätzen! Wo auch immer man im Süden Ihres Landes heutzutage hinschaut, fällt der Blick auf zerstörte Friedhöfe: in Basra, in Kut, in Nassaria. Die Gräber der Soldaten sind zerstört. Räuber, Diebe, Pöbel, Gesindel – verzeihen Sie – haben die schwarzen Steinplatten gestohlen, die die Namen der Opfer der Krone trugen. Schlimmer noch: beim Öffnen der Gräber haben sie sich nicht damit begnügt, die Knochen der Toten zu stehlen, die sie, wie man hört, für irgendwelche Hexenbräuche verwenden. Sie haben alles mitgehen lassen, was mit den Soldaten begraben worden war. Keine Ahnung, was sie damit anfangen wollen. Stellen Sie sich vor, sie haben Hundemarken, Brotbeutel, Sardinenbüchsen, Patronen, Lumpen, Soldbücher, Uniformtücher, Tücher zum Polieren der Stiefel gestohlen – alles, was dem Archäologen und Militärhistoriker helfen könnte, den Begrabenen mitsamt seinen Knochenresten zu identifizieren und gegebenenfalls in der Nähe seiner Angehörigen zu begraben. Um die Zerstörung vollkommen zu machen, haben sie auch ein paar dort verscharrte kleine Fässer mitgehen lassen, die zweifellos einmal giftige Gase enthielten. Die Räuber, die dieses Risiko eingingen, wussten nicht, welch einen Schaden sie sich selbst zufügten. Trotzdem, glauben Sie mir: eine Zerstörung wie die des Friedhofs in Ihrer Stadt hätte ich mir nie ausgemalt.
Unterstützen Sie unsere Redaktion, indem Sie Ihre Bücher in unserem Online-Buchladen kaufen! Vielen Dank!
Der Friedhof Ihrer Stadt, meine sehr verehrten Herren, ist der schönste Friedhof im Süden unseres Reiches. Auf diesem Friedhof haben die geschicktesten Gärtner gearbeitet. Ihre Namen hat man in goldenen Lettern in das Archiv des Ministeriums für die Friedhöfe Britanniens eingetragen. Was schließlich geschah, ist eine Beleidigung des Erbes jener guten und mutigen Männer aus dem Süden, die mit uns arbeiteten und zwischen Muslimen und Christen nicht unterschieden. Sie starben ruhigen Gewissens, begegneten ihrem Herrn mit offenem Herzen – und würden sie auferstehen, könnten sie ihren Augen nicht glauben, denn alles, buchstäblich alles wurde herausgerissen und entfernt. Meine sehr verehrten Herren, während die zuständige Einheit die Knochen der Soldaten einsammelte, um die Klassifizierung vorzubereiten, stießen sie zufällig auf ein Grab, das nicht angetastet worden war. Als hätten die Diebe es nicht zerstören wollen. Alles deutet darauf hin, dass es sich um eine wichtige Persönlichkeit handelte, einen General aus der britischen Armee beispielsweise, dem die Bewohner der Stadt eine besondere Ehrerbietung entgegenbrachten. Was die Aufmerksamkeit unseres Trupps erweckte, war die Tatsache, dass man das Grab jahrelang mehr gepflegt hatte als die anderen Gräber. Die Totengräber hatten offensichtlich auch den Platz etwas abseits der übrigen Gräber mit Bedacht gewählt. Dieses Grab lag an einem schwer auffindbaren Ort, in der Nähe des Platzes, an dem das alte Steinhaus steht. Ein kleiner Jasminbusch wuchs auf ihm, in den Grabstein war ein wunderschöner poetischer Satz gemeißelt, den man nur schwer vergisst: ‚Das Gras singt über den stillen Gräbern’. Anscheinend stammte dieser Jasminbusch ursprünglich nicht vom Englischen Friedhof, sondern war von einem anderen Ort hierher verpflanzt worden. Vielleicht sollte er einen Hinweis auf das Grab geben. Was uns erstaunte, war, dass der Grabstein erst vor Kurzem behauen oder sagen wir: bearbeitet worden war. Der Name darauf erstaunte nicht nur uns, sondern auch die britische Regierung. Wir riefen das Verteidigungsministerium an und sprachen mit Minister Sir Geoff Hoon persönlich. Wir telefonierten mit dem Ministerium, das für die der Krone unterstehenden Friedhöfe auf dem Boden des ehemaligen Empires zuständig ist und zum Archiv des Imperial War Museum in London gehört, dem auch unsere Einheit untersteht. Ja, wir zogen sogar die seriöse britische Zeitung Times zu rate. Aber alle waren höchst verwundert. Keiner wollte glauben, dass dort tatsächlich der Mann liegen sollte, dessen Name auf dem schwarzen Stein unter dem erwähnten Vers stand: Sir T. S. Eliot! Unseren Informationen zufolge gilt es als erwiesen, dass Herr Eliot die letzten Jahre mit seiner ältesten Tochter in der Altstadt von Jerusalem lebte. Dort gab er unter dem Titel Zwischen dem Paradies von Amaria und Samaria einen Gedichtband heraus, bevor er am 4. Januar 1965 im Alter von sechsundsiebzig Jahren in London verstarb. Es ist unmöglich, dass er in Ihre Stadt zurückgekehrt ist. Der Besuch des Irak wäre nach dem Militärputsch vom 14. Juli 1958 ohnehin für jeden Briten ein großes Abenteuer gewesen. Wie wäre es also erst einem Landsmann von seinem Format ergangen? Ich weiß, dass dies ein Scherz sein muss, mit dem uns jemand beleidigen wollte, oder ein Verbrechen, das vertuscht werden soll. Aber wir werden den Übeltäter gewiss finden.
Sehr verehrte Herren Anwesenden, ich weiß, dass Sie gegen die anstehenden Arbeiten sind. Aus diesem Grund haben wir Sie eingeladen: um mit der Elite dieser Stadt zu diskutieren und Ihre konstruktiven Vorschläge anzuhören. Im Interesse beider Seiten soll eine Grundlage für die Zusammenarbeit gelegt werden, damit die Missverständnisse aus der Welt geschafft werden, die vor etwa einem halben Jahrhundert zwischen unserem Königreich und Ihnen entstanden sind.
Meine Damen, sehr verehrte Fräuleins (ich weiß zwar nicht, welche Damen und Fräuleins ich meine, da es hier ja gar keine Frauen gibt), also, meine Herrschaften: Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!“
Vierundzwanzigster Entwurf
Dies ist die Rede, die der Offizier in Zivil, Ezra Pound, hielt – Historiker, Archäologe und Leiter der Einheit „No man’s land“. Diese Einheit untersteht dem britischen Militärmuseum und dem Verteidigungsministerium und gelangte mit der britischen Armee nach Amaria. Er hielt die Rede vor Aufnahme der Grabungsarbeiten, am 11.November, auf der Eröffnungfeier einer Fotoausstellung, die die Briten an dem Ort ausrichteten, wo früher das von den Engländern erbaute staatliche Gästehaus lag. An der Stelle zweigt auch der Mischarah vom Tigris ab. Der Offizier in Zivil war ein großer Mann, der mich an General Townshend erinnerte, den erstenbritischen Kommandanten, dem in der Vergangenheit die „Ehre“ zuteil wurde, Amaria zu besetzen. Ich hatte ihn auf alten Fotos gesehen, die mein Großvater von der Eröffnungsfeier des Englischen Friedhofs vor etwa neunzig Jahren aufbewahrt hatte. Lebte mein Großvater noch, würde er zweifellos sagen, dieser Mann sei ein Sohn von General Townshend, obwohl er einen anderen Namen trug. Namen haben meinem Großvater nie viel bedeutet, sonst hätte er Mister Eliot nicht immer nur „Sahib“ – Herr – genannt! Aber leider weiß mein Großvater nicht, dass die englischen Militärs einander ähneln. Vor allem die hochrangigen Offiziere ahmen einander im Lauf der Jahre in Erscheinung und Lügen einfach nach. General Maude, der die britischen Streitkräfte beim Einmarsch in Bagdad am Ende des Ersten Weltkriegs anführte, sagte den Irakern: „Wir sind als Befreier gekommen, nicht als Eroberer.“ Noch bevor die Tinte seiner Rede getrocknet war, wurde er vor Anbruch des nächsten Tages der uneingeschränkte Herrscher über Bagdad. Und auch der Mann, der jetzt vom Podium herabstieg, log offensichtlich, ohne mit der Wimper zu zucken. Er erklärte, sie hätten ein Grab gefunden. In Wahrheit handelte es sich um eine offene Grube. Ich hatte sie bei meinem ersten Besuch auf dem Friedhof gesehen: Alle Merkmale, die er diesem Grab zuschrieb, gehörten der Vergangenheit an. Warum hielt er die Menschen zum Narren? Wusste nicht jeder, dass dort Major Cowley lag und nicht T. S. Eliot? Und dass der Vers auf dem Grabstein ein Geschenk von Mister T. S. Eliot an seinen Freund, den Major, war, eine charmante Geste, weil dieser – so munkelte man über den englischen Herrn – ihm das Dichten beigebracht hatte? Oder wollte er die Reaktion der Anwesenden auf die Probe stellen? Herausfinden, ob einer einwarf: „Das stimmt nicht! Und selbst der Leichnam von Major Cowley, der einst dort lag, liegt schon seit dann und dann nicht mehr an seinem Platz!“ Ich weiß es nicht! Vielleicht wirkte er deshalb etwas verwirrt, als er von dem Podium herabstieg. Er nahm ein Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als hätte er gerade zum ersten Mal gelogen. Ich weiß nicht, welchen militärischen Rang er innehatte. Er trug ja Zivilkleidung, weil er – wie er sagte – Offizier der Einheit für militärische archäologische Grabungen „No man’s land“ war. Man kennt diese Art Offizier aus Filmen oder Zeitschriften; sie sprechen die Landessprache besser als die Einheimischen. Er trug elegante Khakikleidung, die man ihm wohl erst wenige Minuten zuvor frisch gebügelt hatte. Auf dem Kopf saß, etwas schräg, eine Art Militärbarett. Um den Hals hatte er ein Tuch, obwohl die Temperaturen im November immer noch recht hoch waren. Er hatte natürlich nicht vergessen, sich eine rote Plastikblume an den Anzugkragen zu stecken, wie es die Engländer am Remembrance Day zu tun pflegen. Aber der Mann, der mit der sympathischen Kleidung und dem unter den Arm geklemmten Stock den Eindruck erwecken wollte, er habe ein ziviles Amt inne, war eher ein Militär. Mit seinem Auftreten schien er, wenn auch ungewollt, den Gästen das Idealbild eines britischen Soldaten vorzuführen. Er wollte zeigen, dass er auch in Zivilkleidung seinen Dienst an der Krone erfüllte. Er mochte Anfang sechzig sein, anders als der zivile Verwalter der Stadt, Rory Stewart. Wie man hörte, war dieser erst Anfang dreißig und hatte vorher in Afghanistan gedient und in der britischen Botschaft in Iran gearbeitet. „Stellen Sie sich das mal vor: da setzen die uns so einen Grünschnabel vor die Nase!“, beantwortete der Taxifahrer in dem Dolphin, der mich in Bagdad abholte, meine Frage, wie die Bevölkerung der Stadt zu den Engländern stehe. Wütend erzählte er mir, wie jung der Verwalter, wie „lächerlich“ seine Erscheinung sei. „Mit seinen zerzausten Haaren und dem roten sommersprossigen Gesicht sieht er aus wie ein auf Holzkohle gegrilltes Huhn.“ Der Taxifahrer begriff nicht, warum uns die Engländer jemanden schickten, der Persisch sprach, aber kein Arabisch. Wenn ich dem Gerede der Leute über Rory glaubte, wirkte er in seinem dunkelgrauen Anzug, dem blauen Hemd und der lilafarbene Krawatte sogar im August wie jemand, der im Urlaub war und den Rat eines britischen Reiseführers befolgte. „Er verkörpert die Gedankenlosigkeit und Geringschätzung der Briten für die Bewohner ihrer ehemaligen Kolonien“, fügte der Taxifahrer hinzu. „Es ist nicht zu fassen, dass sie einen dreißigjährigen Kerl, mit so wenig Erfahrung in Verwaltung und Diplomatie, der nicht mal die Landessprache spricht, als Verwalter von beiden Städten im Süden, Amara und Nassaria, eingesetzt haben. Zwei Städte, die zum Inbegriff der Zerstörung im ganzen Land geworden sind!“
Fünfundzwanzigster Entwurf
Was mein Vater mir seit meiner Ankunft in der Stadt immer wieder sagte, hatte sich bestätigt: „Die Engländer sind wie Ziegelsteine – je älter sie werden, desto härter werden sie. Darin unterscheiden sie sich von anderen Menschen. Je mehr die anderen sich auf die Gegenwart zubewegen, desto mehr sind die Engländer der Vergangenheit zugewandt. Hast du ihre Patrouillen gesehen, die durch die Hauptstraße, die Tigris-Straße, marschieren? Sie kommen immer zur selben Stunde, immer auf demselben Weg. Sie kommen jeden Morgen aus ihrem Lager Abu Nadschi im Muallimin-Viertel, überqueren die neue Brücke und biegen in die Tigris-Straße ein. Sie durchqueren die Stadt, bis sie die Präfektur erreichen und kehren daraufhin in ihr Lager zurück. Wenn man sie fragt, was es mit diesen Patrouillen auf sich hat, wenn sich gleichzeitig die bewaffneten Milizen weiter vermehren – ob es auf eine gute Beziehung zu den Einheimischen schließen lässt, weil die Milizen täglich Unmengen neuer Waffen einführen dürfen –, dann antworten sie, dass sie ihre Arbeit wie in der Vergangenheit verrichten und sich gut mit den Bewohnern des Südens verstehen. Aus Respekt vor ihren Bräuchen mischen sie sich nicht in deren Angelegenheiten ein. Und wenn ein paar von ihnen mit Waffen in das Stadtkino eindringen, um dort Trauerprozessionen und Geißelungen zu veranstalten, dann handelt es sich dabei eben um eine dieser Traditionen. Wenn Milizen die Christen zwingen, Spirituosenläden und Kneipen dichtzumachen und mit Waffen auf Internetcafés und Videoläden losgehen, ist das natürlich auch ein alter Brauch. Und wenn die Sabäer dazu gezwungen werden, während der Aschura-Prozessionen im Trauermonat Tazia-Banner zu Ehren Hussains vor ihre Läden zu hängen, dann ist auch das – den Engländern zufolge – ein Teil ihrer Tradition! Als würde eine Stadt, die jahrelang problemlos vor sich hin gelebt hat, nach Eintreffen der Engländer plötzlich ihre alten Sitten wiederentdecken! Als müssten die Menschen, die ihre Arbeit verloren und ihre Kleidung und Bräuche aufgeben mussten, den Engländern danken!“ Das Ergebnis: Seit dem Tag ihrer Ankunft in der ersten Aprilwoche 2003 stehen die Engländer für meinen Vater für die allgegenwärtige Vergangenheit. Egal, ob Militär oder Zivilist, selbst der neue zivile Verwalter, der „kindliche“, den die Engländer geschickt haben, erinnerte ihn an Major Cowley, der Mitte der vierziger Jahre an Syphilis starb. Vergleicht man, so mein Vater, Fotos von den Engländern aus dem Jahr 1914 bei ihrem Einmarsch in den Irak mit Fotos von heute, kann man sehen: Sie sind Mumien, die sich aus ihren Bandagen geschält haben. Sie glauben, die Menschen hier seien in ihren Höhlen in Tiefschlaf gefallen, wie sie, und hätten sich trotz dreier grausamer Kriege, trotz Blockaden, Unterdrückung und Tod, nicht verändert. Der Schick, die saubere militärische Aufmachung, die frischen Bügelfalten, die schwarzen, spiegelblanken Stiefel, die unter die Achseln geklemmten Stöcke, die sommers wie winters um den Hals geschlungenen Tücher, die aufgesetzte Höflichkeit, die leere Behauptung, sich mit den Traditionen der Einheimischen auszukennen, Geiz und Anmaßung im Gespräch! Im letzten Punkt hatte mein Vater allerdings Unrecht. An jenem Tag plauderte Ezra Pound wirklich höflich mit den Menschen. Er wirbelte, nach links und rechts grüßend, zwischen den Anwesenden umher, als würde er jeden kennen. Sogar mir schüttelte er die Hand und fragte mich nach meinem Namen. Er stellte sich vor, erzählte, dass sein Bataillon auch zur siebten Brigade gehöre und schon seit Beginn der militärischen Operationen am 19. März 2003 im Irak sei. Leider hatten sie schon hunderte von Offizieren und Soldaten verloren. Während der letzten Ereignisse im Bezirk Madschar al-Kabir hatten einige Bewohner sie angegriffen und seine unschuldigen Soldaten getötet! Er hatte die Ausstellung, die die Briten „Erinnerung an die Stadt“ nannten, organisiert, bevor diese aus ihrem Bataillon abgezogen wurden und im April 2007 auf ihre Basis im Camp Snigler in Deutschland zurückkehrten, von wo aus Nachschub kommen sollte.
„Kehrt man nach vielen Jahren zurück, ist es gut, sich wieder in derselben Stadt, zwischen den Menschen von früher niederzulassen „, sagte er und zeigte dabei auf die Gäste.
Sechsundzwanzigster Entwurf
Der kleine Saal, in dem die Feier stattfand, und das noch kleinere Nebenzimmer waren die letzten Räume in dem Gästehaus, in dem sich viel verändert hatte. Zuletzt war es in eine Villa für einen Kommandanten der Armee umgewandelt worden. Randalierer zerstörten es, als sie hörten, dass die englischen Streitkräfte sich dem Stadtzentrum näherten und die in der Nähe gelegene Garnison sich widerstandslos ergeben hatte. Die Soldaten legten ihre Uniformen ab und zogen Zivilkleidung an, nachdem einige hohe Offiziere des dort versammelten dritten Korps das Schlachtfeld fluchtartig verlassen hatten – unter ihnen auch der Besitzer der Villa. Die Villa war wie die meisten in den letzten beiden Jahrzehnten im Land errichteten Paläste und herrschaftlichen Häuser aus massiven Steinblöcken erbaut. Die Terrasse ruhte auf zwei massiven Marmorsäulen, die wüstensandfarben gestrichen waren. Das alte Gebäude des Gästehaus mit seiner mosaikgeschmückten Fassade und den blau gestrichenen Mauern war nicht verschwunden, sondern hatte sich in den letzten Jahren mit der gesamten an den Fluss angrenzenden Gegend in eine große Festung verwandelt. Während des Krieges mit dem Iran hatte man die Garnison gegenüber dem Gästehaus am linken Ufer des Mischarah-Flusses erweitert. Die Militärs und Verantwortlichen in der Partei und im Staat waren jedoch auch darauf bedacht, ihre Villen entlang des Geländes zu bauen, wo der Tigris mit dem Mischarah und dem Kahla zusammentrifft.
Siebenundzwanzigster Entwurf
Ich versuche, mir einen alten Ort vorzustellen, der zu einer fernen Erinnerung geworden ist. In meinem Geiste ist nichts als ein verschwommenes Bild von dem Gästehaus und den anderen Orten geblieben, nach denen ich vom ersten Tag an in der Stadt gesucht habe.
Ich wusste, dass ich keinen Bekannten treffen würde. Selbst wenn jemand aus meiner Generation dortgewesen wäre, hätten wir kaum ein Gesprächsthema gefunden. Kannst du dich an dieses oder jenes Gebäude erinnern? An die Schule, in der wir gemeinsam die Bank gedrückt haben? Den Park, der an die Stadt grenzte und später zubetoniert und in ein Wohnviertel verwandelt wurde? Erinnerst du dich noch an die beiden Friedhöfe, den Englischen und den Indischen? Das Hamra-Kino, das neben dem Postund Telegraphenamt lag? Das Ghazi-Kino im Stadtpark, gegenüber dem Haus von Hanna al-Schaich Bardschuni, bevor es dichtmachte und in den achtziger Jahren in ein Orosdi Back verwandelt wurde? Erinnerst du dich an das Amir-Kino, dort wo jetzt das Stromhäuschen für das Dschumhuri-Krankenhaus liegt? Und die Cafés der Stadt: das Tudschar, das Schanun, das Hussein-Barid und das Sajjid-Ali-al-Dschawadi-Café? Das Chajjam-Kino im Sommer und im Winter, das jetzt ein Möbelhaus ist und im Monat Aschura für Trauerprozessionen und Geißelungen genutzt wird? Das Nasr-Kino, das – aus südlicher Richtung kommend – am Eingang zur Bagdad-Straße liegt? Erinnerst du dich an die Bagdad-Straße, die sich mit ihren alten Häusern von Norden nach Süden durch die ganze Stadt zieht, über die Kahla-Brücke mit ihren prächtigen Pfeilern hinweg? Der Suq der Goldschmiede, in dem das Café Abu Salam liegt, das zum ersten Mal schwarz-weiß-Fernseher der Marke „Telefunken“ in die Stadt brachte? Erinnerst du dich an die moderne Buchhandlung und den Laden von Schakir al-Haschimi? Die Supermärkte der Familie al-Zain und die „Linsen“ des Fotografen Salih Mahdi und früher das Fotostudio Samira? Erinnerst du dich an dieses und jenes? Ich war sicher, dass niemandem ähnliche Fragen in den Sinn kommen würden. Denn wer an demselben Ort bleibt, dem fallen die Veränderungen kaum auf. Wenn das Vergessen in das Gedächtnis eindringt, dient das Gedächtnis nur noch der Erinnerung der unmittelbaren Gegenwart. Man vergisst, um am Leben zu bleiben. Warum fragte mich niemand, wer ich war und warum ich mich dort aufhielt? Vielleicht wussten sie es, vermieden aber, mich danach zu fragen. Das hatten sie ja in den letzten fünfunddreißig Jahren gelernt. Sie fürchteten, jemand könnte kommen und ihnen Fragen stellen. „Wir wissen nichts“ – an diese Antwort waren sie gewöhnt. Wissen brachte die Menschen in diesem Land in Schwierigkeiten und konnte sogar den Tod bedeuten. Nur die Geflohenen und Ausgewanderten bestanden darauf, sich zu erinnern. Und wenn sie zurückkehrten, begannen sie jedes noch so kleine Detail zu überprüfen. Ich war begeistert zur Fotoausstellung gegangen, die die Briten unter dem Titel „Erinnerung an die Stadt“ organisiert hatten. Wenn ich mit viel Glück jeden hilfreichen Faden aufgriffe, würde vielleicht das Bild von der Stadt, das ich all die Jahre in mir bewahrt hatte, in der Phantasie neu entstehen: Amaria lag mir am Herzen, nicht diese neue Stadt, die auf ihren Trümmern entstanden war!
©Hanser©
Literaturangabe:
WALI, NAJEM: Engel des Südens. Übersetzt von Imke Ahlf-Wien.
Weblink