Von Wolfgang Harms
Uwe-Johnson-Preis, Auswahlliste für den Deutschen Buchpreis - Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“ hat schon vor seinem Erscheinen werbewirksame Vorschusslorbeeren gesammelt. Doch nach der Lektüre hinterlässt das 1.000-Seiten-Epos über den Niedergang der DDR einen zwiespältigen Eindruck. Überzeugenden Episoden folgen Szenen auf Groschenroman-Niveau, erzählerische Ironie missrät regelmäßig zu abgestandenem Altherren-Witz, die Sätze schleppen schwer an Wortballast und angestrengten Lyrizismen. Befund: „Der Turm“ hat seine Baumängel.
Die „Geschichte aus einem versunkenen Land“ - so der Untertitel - spielt im Dresden der 80er Jahre, in dessen verfallenden Villenvierteln über der Elbe die Reste eines bildungsbürgerlichen Milieus musische Neigungen pflegen und mit Regime und realsozialistischem Alltag hadern. Diese Welt ist dem Autor wohlvertraut, und so packt er reichlich Autobiografisches in sein Werk. Vor allem die Hauptfigur Christian trägt alle Züge eines Selbstporträts. Wie Tellkamp selbst, meldet sich Christian zum Wehrdienst bei den Panzertruppen, gerät in Haft und soll am Ende gegen Demonstranten vor dem Dresdner Hauptbahnhof vorgehen.
Doch Christians Reise in die Unterwelt der DDR-Justiz ist nur ein Handlungsstrang im epischen Geflecht. Das Buch könnte genauso gut „Die Türmer“ heißen, so viele Fluchtbewegungen beschreibt es. Erotische Eskapaden, Rückzug in nostalgische Träumerei, Einsiedelei in der Schreibstube, Ausreiseantrag - jede Figur sucht ihren eigenen Pfad zwischen Anpassung und Aufbegehren, Kompromiss und Konflikt, Lavieren und Durchschlagen. Und jede zahlt ihren Preis in Form von Entwürdigung, Einschüchterung oder Vereinzelung. Tellkamp zeigt, dass es in einer Diktatur keine Refugien gibt.
Die Vielfalt der Perspektiven und Stimmen überträgt Tellkamp in ein Wechselspiel der literarischen Formen. Meist herrscht der Tonfall des realistischen Romans vor. Doch ganze Kapitel sind als Briefe verfasst, andere als Tagebucheinträge voll poetischer Visionen in der Manier seines früheren Romans „Der Schlaf in den Uhren“, wieder andere als Dialoge von mitunter lakonischer Kürze.
Bei diesen Stilübungen zeigt sich der Autor nicht immer fingerfertig. Oft hantiert er unbeholfen mit sprachlichen Versatzstücken („Wenn man mit ihr allein im Zimmer war, herrschte knisternde Spannung“), manches Bild gerät schief („jugendliche Banausen, die nicht über den Tellerrand ihrer Schlaghosen-Interessen blickten“).
In Interviews hat Tellkamp sein Schreiben als eruptiven Akt, als rauschhaften „Ausnahmezustand“ bezeichnet. Eine nüchterne Nachbearbeitung hätte die starken Seiten des Buches besser zur Geltung gebracht. Denn die gibt es: Die Rekruten-Schinderei in der DDR-Armee schildert Tellkamp weit eindrucksvoller als etwa Leander Haußmann in „NVA“. Er entwirft ein anschauliches Panorama des praktischen und intellektuellen Lebens in der späten DDR, das manchmal wie eine Beschwörung verlorener Heimat anmutet. Doch bei aller Detailfreude lässt der Autor vieles im Unklaren; seinen Lesern gönnt er keinen weiteren Horizont als seinen Figuren.
Gewiss sind DDR-Tristesse und die Entwürdigung des Einzelnen im Totalitarismus schon vorher beschrieben worden, und gewiss nicht schlechter. Angesichts des politischen Vormarschs der SED-Nachfolger aber wird man Tellkamps „Geschichte aus einem versunkenen Land“ ihre Aktualität nicht absprechen können.
Literaturangaben:
TELLKAMP, UWE: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 976 S., 24,80 €.
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