Was ist schon sicher? Der Job, das Leben, das Land? Annette weiß es nicht. Obwohl sie als Flugsicherheitsassistentin auf dem Frankfurter Airport wegen der allgegenwärtigen Terrorgefahr besonders aufmerksam tagtäglich die Passagiere von oben bis unten nach gefährlichen Gegenständen und Substanzen absucht, ist ihr die manchmal entwürdigende Prozedur nicht selten zuwider. Manchmal geht ihr sogar etwas durch. Was nicht geschehen darf und was sie den schlecht bezahlten Job kosten könnte.
Die Perspektive, die Annegret Held in ihrem neuen Roman „Fliegende Koffer“ zeichnet, kennt kaum einer. Wie auch? Als Fluggast duldet man mehr oder weniger widerwillig die Kontrolle, ohne zu ahnen, was jene Leute auf der anderen Seite dabei empfinden. Wie das Leben derer aussieht, die man eher verwünscht als achtet. Alles für die Sicherheit. Romanheldin Annette ist Teil dieser Sicherheit. Doch bei ihr selbst scheint gar nichts sicher zu sein. Genauso wenig wie bei ihren Kollegen, die diese Arbeit machen, um leben zu können – obwohl sie Theologe, Optiker, Entwicklungshelferin oder Stabsoffizierin sind.
Der hektischen bunten Welt des Flughafens, in dem die Sicherheitsleute jeden Tag tausendmal den Arm heben, tausendmal in die Knie gehen, tausendmal „Bitte umdrehen“ sagen, schwitzende Körper abtasten oder mit der Sonde kontrollieren müssen, setzt Held ihre weniger farbenfrohen Schicksale entgegen. Ganz normale Leben, schwere Leben, oft voller Beziehungsprobleme, finanzieller und anderer Sorgen.
Annette teilt das Los der „kleinen Leute“. Sie, die einst von Bühne und Rampenlicht träumte und nun stattdessen den ungeliebten Job macht, hat die Bodenhaftung verloren, als sich vor zehn Jahren ihre große Liebe Simon gegen sie und für die Familie entschieden hat. Doch nun taucht Simon wieder auf, als ihr Vorgesetzter – inzwischen getrennt von Frau und Kindern. Annette lässt sich erneut auf ihn ein – und weiß doch, dass etwas nicht mehr stimmt. Die Beziehung zwischen Simon und Annette ist der rote Faden in dem Roman.
Aber was ihn besonders lesenswert macht, sind die vielen kleinen Geschichten jener Leute auf dem Flughafen, die am Boden bleiben. Wirklichkeitsgetreu und glaubhaft. Welche Emotionen bewegen Annette dazu, eine junge behinderte Frau durchzulassen, ohne dass diese ihre Beinprothese abnehmen muss? Damit geht sie ein hohes Sicherheitsrisiko ein, es wäre ein Kündigungsgrund. Warum dieselt sie sich mit dem konfiszierten Armani-Parfüm ein? („Ich wollte auch mal nach Armani riechen.“) Warum lässt sie ein Glas selbst gemachter Marmelade durchgehen? Alles Verstöße gegen Vorschriften. Annette sucht gern eine Verbindung zu jenen, die sie kontrollieren muss. Oft nur gedanklich, ja suggestiv.
Annegret Held weiß, wovon sie schreibt. Die mehrfach mit Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnete Schriftstellerin hat selbst ein Jahr lang als Flugsicherheitsassistentin und in verschiedenen anderen Jobs gearbeitet. Für ihre Bücher kann sie aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Das macht ihre Literatur authentisch. Ihre mitreißende Erzählkunst über Menschen und alles Menschliche aber macht ihr Werk bemerkenswert. Wie auch Autorenkollegin Doris Dörrie sagt: „Annegret Held schreibt wunderbare Geschichten über Verlierer, die in Wahrheit echte Gewinner sind. Ich bin ihr größter Fan...“
Von Frauke Kaberka
Literaturangaben:
HELD, ANNEGRET: Fliegende Koffer. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009. 304 S., 19,95 €.
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