MÜNCHEN (BLK) – Das Sachbuch „Wie geht’s, Deutschland? Populisten. Profiteure. Patrioten. Eine Bilanz der Einheit“ von Michael Jürgs ist im September 2008 im C. Bertelsmann Verlag erschienen.
Klappentext: Nur 13 Prozent der Ostdeutschen sind zufrieden damit, wie sich ihr Leben nach dem Mauerfall verändert hat. 75 Prozent der Westdeutschen wollen nicht mehr für den teuren Aufbau Ost zahlen – so die neuesten Umfragen zur Lage der Nation. Entspricht das der Stimmung? Wie geht’s, Deutschland? Auf der Suche nach Antworten hat sich der Autor auf die Reise durch Deutschland gemacht und die Menschen getroffen, die vor Ort, Ost wie West, selbstbewusst an die Zukunft glauben. Und ewig Gestrige, die ihrer Vergangenheit nachweinen. Er besuchte die vergessenen und unvergessenen Helden der unblutigen Revolution von 1989, stieß auf Geheimdokumente des SED-Regimes und sprach mit bekannten wie unbekannten Machern der deutschen Einheit.
Michael Jürgs ist Journalist und war u.a. Chefredakteur von „Stern“ und „Tempo“. Er schrieb Bestseller wie „Der Fall Romy Schneider“ und den Politthriller „Das Kleopatra-Komplott“, „Der Fall Axel Springer“, „Die Treuhändler – wie Helden und Halunken die DDR verkauften“, „Alzheimer-Spurensuche im Niemandsland“, „Gern hab ich die Frau'n geküsst – die Richard Tauber Biografie“. Viele seiner Bücher wurden verfilmt. Mit Angela Elis verfasste er die Streitschrift „Typisch Ossi, typisch Wessi“. Zuletzt erschienen: „Eine berührbare Frau – Das atemlose Leben der Künstlerin Eva Hesse“. (bah)
Leseprobe:
© C. Bertelsmann ©
Die Klagen der Nation
Im fernen Osten, nahe der polnischen Grenze, lernte ich einen Unternehmer kennen, der statt in Sachsen ebenso gut in Reutlingen, Paderborn oder Landshut hätte leben können. Seine Weste spannte gesamtdeutsch über einem runden Bauch, sein Hund schnarchte zu seinen Füßen, seine Sekretärin tat wichtig. Was hinter ihm an der Wand hing, wäre allerdings im Westen aufgefallen. Das schwarz gerahmte Foto zeigte ihn als Offizier der Nationalen Volksarmee. Wenige Wochen vor der Bundestagswahl 2005 ließ dieser Unternehmer die einhundertzwanzig Mitarbeiter seiner Firma im Hof antreten. Dann stellte er ihnen einen Mann vor, der verlegen lächelnd neben ihm auf der Rampe stand, an der sonst die Lastwagen auf Ladung warten. „Das ist mein Freund“, sagte er sinngemäß, denn genau weiß er das wirklich nicht mehr, „der ist in der CDU. Es geht mich nichts an, was ihr wählt, aber eure Erststimme für den Direktkandidaten gebt ihr ihm. Klar?“
Klar.
Noch Fragen?
Keine Fragen.
Ihr Firmenchef war bereits ihr Vorgesetzter, als die meisten von ihnen noch, so wie er, die Uniform der Nationalen Volksarmee trugen. Seinen Befehlen zu gehorchen war damals Pflicht, aber die Aufforderung, den Kandidaten der CDU zu wählen, wirkte deshalb nicht automatisch auf sie wie der Befehl auf einem anderen Hof, dem irgendeiner Kaserne in der einstigen DDR. Dass sie noch immer reflexartig Haltung annahmen, weil ein ehemaliger Repräsentant der untergegangenen Ordnung zu ihnen sprach, ist zwar eine naheliegende Vermutung. Aber sie ist falsch. Diese Vergangenheit war passé, und ihr eigenes Kapitel darin haben sie verarbeitet. Ihr Boss zählte jetzt zu den Stützen der Gesellschaft, hatte die da geltenden Regeln genauso effizient verinnerlicht wie früher die des alten Systems. Gemeinsam mit ihm waren auch seine Angestellten im real existierenden Kapitalismus angekommen. Sie hatten eine feste Arbeit und keine Angst vor der Zukunft. Die deutsche Einheit hat auch ihr Leben verändert.
Es ist ein besseres als das Leben früher.
Dass es ihnen heute gut geht, verdanken sie nicht nur eigener Leistung, sondern mehr noch dem Mut ihres Chefs, der mit erstaunlichem Gespür für die kommenden Bedürfnisse eines freien Marktes schon im Sommer 1990 einen Heizungs- und Sanitärbetrieb gegründet hatte. Er verschaffte ihnen eine neue Existenz. Um die nicht zu gefährden, mussten sie sich gelegentlich halt anpassen. Doch jede Form der Anpassung war ihnen aus den Zeiten der Diktatur vertraut. Sie wussten aus Erfahrung, dass es im Zweifelsfall besser wäre, die Schnauze zu halten. Die keinen Widerspruch duldende Ansage ihres Arbeitgebers war so ein Fall. Da die Ergebnisse der kommenden Wahl nicht wie einst in der DDR bereits vor der Wahl feststanden, blieb ihnen noch die freie Entscheidung, mit der Zweitstimme auf der Liste ihre Lieblingskandidaten von der PDS anzukreuzen.
Hans-Joachim Maaz, Psychiater und Psychoanalytiker, hat nach der deutschen Herbstrevolution 1989 mit seinem Buch „Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR“ den waghalsigen Versuch unternommen, ein Volk auf die Couch zu legen und dessen psychische Deformationen, entstanden über Jahrzehnte durch im Alltag notwendige Unterdrückung wahrer Gefühle, zu analysieren. Maaz sieht außer in den sowieso vorhandenen psychischen Spätfolgen der Diktatur die wesentliche Ursache für die immer wieder auffälligen Verstörungen seiner ostdeutschen Landsleute in ihrer beruflichen Existenzangst. Deshalb bedürften sie dringend einer Therapie: „Menschen, die in Arbeit sind, trauen sich heute weniger als früher. So schlimm es war mit der Stasi, man wusste mit den Typen umzugehen und hatte gelernt, seine wahre Meinung vor denen zu verbergen. Die Angst vor dem Jobverlust dagegen, die ist heute existenziell.“
Bei seiner Analyse hebt er kaum die Stimme. Der Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im Evangelischen Diakoniewerk Halle, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für analytische Psychotherapie und Tiefenpsychologie, wirkt müde, als sei ihm, ein knappes Jahr vor dem Ruhestand, die Lust bereits ausgegangen. Zwar könne man mittlerweile nicht nur denken, sondern vor allem sagen, was man wolle, aber weil sich dadurch anschließend nichts ändere, „ist es nichts mehr wert: Die Erschlaffung und die Resignation sind sicher auch daraus entstanden, dass uns die Revolution geraubt wurde durch die Westdeutschen. Das war die erste große Enttäuschung nach dem Umbruch.“
Maaz vergleicht diese Enttäuschung, der andere folgten, nicht etwa mit einem Raubüberfall, doch eine Art geistiger Diebstahl, eine unbewusste Verletzung des Urheberrechts, ist es für ihn allemal. Als im Zuge der laufenden Demonstrationen nicht nur die Mauer in Berlin, sondern alle Mauern gefallen waren, als Gedanken nicht nur frei waren, sondern frei ausgesprochen werden konnten, als die Bonzen zum Teufel oder aus ihren Ämtern gejagt waren, als die Angst endlich vertrieben schien und das Volk gesiegt hatte, wurde den Siegern innerhalb weniger Monate der Sieg wieder gestohlen.
Erschöpft von ihrem Aufstand, wehrten sich die Aufständischen nicht, zumal sie bereits begonnen hatten, den gerade bewiesenen Mut zu hinterfragen. Sie waren in erster Linie geborene Deutsche und keine geborenen Revolutionäre.
Umso bewundernswerter sei doch ihre Leistung gewesen, sagt Rainer Eppelmann, den ich später auch um eine Erklärung für das mangelnde Selbstbewusstsein seiner Landsleute bitte. Er leitet die „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“, ist aufgrund seiner politischen Biografie genau der richtige Mann für diese Aufgabe und hat nicht erst 1989 gelernt, sich zu wehren. Als Pfarrer der Samariterkirche in Berlin predigte er zivilen Ungehorsam, als das noch lebensgefährlich war. Eppelmann hat sich nie einschüchtern lassen, nicht als junger Mann, der sowohl den Wehrdienst als auch den Einsatz als Bausoldat verweigerte und zu acht Monaten Haft verurteilt wurde, nicht als ihn die Krake Stasi verschlingen wollte, weil er zusammen mit Robert Havemann im „Berliner Appell“ forderte, Frieden zu schaffen ohne Waffen und an den Schulen auf Wehrkundeunterricht zu verzichten. „Revolution ist ein Wort, das die Deutschen nicht mögen“, sagt er, „und deshalb ist auch der Ossi nicht stolz darauf, dabei gewesen zu sein.“
Nur wegen der unerträglich gewordenen irdischen Zustände im Arbeiter- und Bauernparadies hätten sie keine andere Wahl gesehen, als sich mit der Parole „Wir sind das Volk“ gegen die Obrigkeiten zu wehren. Dies ging nicht ohne Umsturz, ohne Revolution. Sie konnten ja nicht einfach alle abhauen aus der DDR, sie mussten ja bleiben, logisch. Und weil sie nicht wegkonnten, musste die DDR weg, auch logisch. Jetzt, da dies erreicht war, sollte aber bitte wieder Ruhe einkehren. Statt mit Stolz auf das Vollbrachte den Westdeutschen auf Augenhöhe entgegenzutreten, akzeptierten zu viele Ostler, dass die Westler ihren Sieg frech für sich reklamierten. „Wir wollen ja keine Sonderrechte, also keine Ostquoten für Ostgoten. Wir sind doch keine Kaninchen, die geschützt werden müssen, wir wollen nur gleich behandelt werden wie ihr im Westen“ (Eppelmann).
Die Westler waren zwar nicht geschult im dialektischen Materialismus, aber sie wussten, wie man sich mit passenden Sprüchen durchsetzt. Das bessere System habe sich als siegreich erwiesen, lautete ihre angeberische Botschaft, und sie als Vertreter des Besseren seien die wahren Sieger. Maaz: „Wir haben es hingenommen, als die Wessis sagten, ist ja ganz schön gewesen mit euren revolutionären Ideen, aber die brauchen wir jetzt nicht mehr, jetzt kümmern wir uns um euch. Wir Ossis sind also selbst schuld, schieben aber nichtsdestotrotz die Schuld auf die Wessis.“ Auch bei dieser merkwürdigen Mischung von Schuldgefühlen und Schuldzuweisungen wäre seine Analyse der zerrissenen Volksseele sicher hilfreich.
Es sei die bis in den Alltag hinein spürbare Arroganz der West- deutschen, die eigentlichen Sieger zu sein, die sie noch heute so verbittere, bestätigten mir nicht nur die Verlierer der Einheit, bei denen eine Verbitterung noch verständlich wäre. So argumentieren auch die Gewinner. Sie messen das Erreichte an dem, was im Westen in über vierzig Jahren wirtschaftlicher Blüte mit harter Arbeit erreicht worden ist, statt ihr neues Leben, was angebracht wäre, mit den Verhältnissen in den ehemaligen sozialistischen Bruderländern zu vergleichen. Die hatten und haben viel größere Hürden zu überwinden auf dem Weg zur Marktwirtschaft, weil ihnen keine reiche Schwester bei der Sanierung der Trümmerlandschaft half, die der Sozialismus hinterlassen hatte. Aber die Brudervölker stimmen keine Jammerchöre an, obwohl ihr Lebensstandard weit unter dem der Ostdeutschen liegt.
Was außerdem zum allgemeinen Frust beiträgt, sind die geplatzten Illusionen von der Warenwunderwelt des Westens, die in der Einheit jedem erschwinglich sein würde. Entpolitisierung als „Gegenwelle zur gerade erlebten politischen Bewegung“ war laut Maaz die Folge. Sie hätten nach dem Umbruch ihre gesamte Geschichte selbst aufarbeiten müssen, „hätten selbst unseren Saustall in Ordnung bringen müssen. Wir selbst hätten die Urteile sprechen müssen über die Täter. Dafür hätten wir aber mehr Zeit gebraucht. Danach erst hätte man verhandeln sollen über die einzelnen Bedingungen der Einheit.“ Im selben Atemzug gibt er aber zu, dass diese Analyse des Psychiaters fern der damaligen Wirklichkeit ist. „Wie das politisch hätte umgesetzt werden können, weiß ich nicht, war tatsächlich wohl bei dem Zeitdruck nicht machbar.“ Für die psychische Entwicklung der Ostdeutschen ist das Versäumnis dennoch „im Blick zurück aus heutiger Sicht ein großer Fehler gewesen“.
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Literaturangaben:
JÜRGS, MICHAEL: Wie geht’s, Deutschland? Populisten. Profiteure. Patrioten. Eine Bilanz der Einheit. C. Bertelsmann Verlag, München 2008. 368 S., 19,95 €.
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