Von Mirco Drewes
In Berlin kennt man sich, dem legendären und bis heute nicht vollständig reduzierten S-Bahnchaos sei es gedankt, mit den Schwierigkeiten des Zugverkehrs sehr gut aus. Folglich kann es nicht verwundern, dass im Berliner Satyr Verlag mit „Ist hier noch frei?“ ein satirisches Buch des Bahnreisens erschienen ist. Die, ebenfalls in Berlin lebenden, Autoren Jochen Reinecke und Klaus Cäsar Zehrer widmen sich in ihrem „Kleine[n] Bestimmungsbuch für Bahnreisende“ jedoch nicht organisatorischen Missständen des allgemeinen Betriebsablaufs, sondern den Herausforderungen sozialer Natur, die erst beginnen, wenn der Zug eintrifft.
Der handliche Band richtet sich an Zugreisende, die dem Überlebenskampf im Großraumabteil nicht unvorbereitet begegnen möchten. Das temporäre Beisammensein unterschiedlichster Menschen auf engem Raum hat bekanntermaßen stets Unvorhergesehenes zur Folge und hält auch manch unangenehme Überraschung bereit. Jochen Reinecke, seines Zeichens Journalist und Sachbuchautor, und Kompagnon Klaus Zehrer, der sich als Schreiber auf der Titanic hervorgetan hat, haben es sich zur Aufgabe gemacht, dem Leser die nötigen Hintergrundinformationen für möglichst stressfreies Zugreisen an die Hand zu geben.
Sich in ihren Professionen ergänzend stellen sie zu diesem Zweck eine Taxonomie der potentiell Mitreisenden auf. Präzise im Duktus eines Sachbuchs, bissig im Stile einer Sozialsatire. Gegliedert ist das Bestimmungsbuch nach einem strengen Schema: Zunächst werden die Einzelreisenden kategorisiert, analysiert und dem geneigten Leser die notwendigen Verhaltenstipps im Umgang dargereicht, anschließend die Gruppenreisenden. Jeder Typus wird anhand der ausdrucksstarken Illustrationen von Andreas Michalke im Bild präsentiert, um anschließend anhand eines empirischen Katalogs in seiner Erscheinungsform präzisiert zu werden.
Die Autoren präparieren das Charakteristische der Mitreisenden heraus und erklären kurios anmutende Verhaltensmuster genealogisch mit pointierten Hintergrundgeschichten. Dem Leser werden Tipps zum deeskalierenden Umgang gegeben. Die Lektüre ist flott und amüsant; gelegentlich fühlt man sich wie auf einem Rundgang mit Heinz Sielmann durch eine fremdartige Lebenswelt, um sich dann mit diebischer Freude eigener Erlebnisse durch dies Bestimmungsbuch zu erinnern. „Ist hier noch frei?“ ist eine süffisante Parodie zoologischer Typologien, augenzwinkernde Sozialsatire und ein hübsch anzusehendes Geschenkbuch für Bahnfahrer.
REINECKE, JOCHEN & ZEHRER, KLAUS CÄSAR: Ist hier noch frei?. Satyr Verlag, Berlin 2010. 92S., 9,90€.