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Ulla Hahn: Aufbruch

Blick in die Seele einer Heranwachsenden

© Die Berliner Literaturkritik, 25.09.09

MÜNCHEN (BLK) – Im September 2009 erschien Ulla Hahns Roman „Aufbruch“ bei DVA.

Klappentext: Hilla lacht das freieste Lachen der Welt. Es ist der erste Tag nach den Weihnachtsferien im Januar 1963; das Lehrerkollegium des Aufbaugymnasiums hat beschlossen, die Siebzehnjährige noch ins laufende Schuljahr aufzunehmen. Mit diesem Tag beginnt für das wissbegierige Kind „vun nem Prolete“ endlich das lang ersehnte neue Leben, in dem die einfachen Wahrheiten der Eltern nicht mehr gelten, in dem das Buckeln in der Papierfabrik von der Freiheit der Worte abgelöst wird. Doch wird Hilla ihre wahre Heimat wirklich in der Sprache finden?

„Aufbruch“ gewährt einen anrührenden Blick in die Seele einer mutigen und doch so verletzlichen Heranwachsenden – und zeichnet sprachübermütig und mit großem epischem Temperament ein detailreiches Sittengemälde von den bundesrepublikanischen Mittsechzigern.

Ulla Hahn ist im Rheinland aufgewachsen. Die promovierte Germanistin war Lehrbeauftragte an den Universitäten Hamburg, Bremen und Oldenburg, anschließend bis 1989 Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Hölderlin-Preis ausgezeichnet. 1994 hatte sie die Heidelberger Poetik-Dozentur inne. Die Bücher Ulla Hahns erscheinen bei DVA. Für ihren großen Roman „Das verborgene Wort“ erhielt sie 2002 als eine der ersten Schriftstellerinnen den Deutschen Bücherpreis. (hel)

Leseprobe:

©DVA©

Lommer jonn, hatte der Großvater gesagt, lasst uns gehen!, in die Luft gegriffen und sie zwischen den Fingern gerieben. War sie schon dick genug zum Säen, dünn genug zum Ernten?

Wie freudig war ich ihm alle Mal gefolgt, das Weidenkörbchen mit den Hasenbroten in der einen, den Bruder an der anderen Hand. Aus dem kleinen Haus in der Altstraße 2, wo die Großmutter regierte und der liebe Gott, der Vater op de Fabrik ging und die Mutter putzen, zogen wir vorbei an Rathaus, Schinderturm, Kirchberg, durch Rüben-, Kohl- und Porreefelder an den Rhein, ans Wasser. Dorthin, wo keine Großmutter Gott und Teufel beschwor, kein Vater drohte, keine Mutter knurrte, wo ich mich losriss von der Hand des Großvaters und loslief, auf und davon und weit hinein ins Leben, durch Kindergarten und Volksschule, Mittelschule und erste Liebe, eine Lehrstelle aufder Pappenfabrik, die Flucht in den Alkohol und die Erlösung daraus. War Beichtkind, Kommunionkind, Firmling gewesen, hatte mich von Hildegard in Hilla umgetauft, mir das schöne Sprechen beigebracht, das Essen mit Messer und Gabel.

Lommer jonn, hätte der Großvater an einem Tag wie heute gesagt, frostklare Sonne, ein krisper Wind, ventus, venti, masculinum, ich hatte die Zeit seit der Kündigung meiner Lehrstelle genutzt, carpe diem, hatte mein Pensum intus, mit der Sprache, der lingua Gottes, auf tu und du. Ich hatte die Prüfung bestanden. Das Aufbaugymnasium erwartete mich. Das Wilhelm-von-Humboldt-Aufbaugymnasium.

Lommer jonn, hätte er gesagt, und ich wickelte mich in Mütze und Schal, machte mich auf, an den Rhein, ans Wasser, dorthin, wo die Wellen mir mein erstes Buch vor die Füße gespült hatten, einen weißen, von grauen und schwarzen Linien geäderten Kiesel. Der Stein ist beschrieben!, hatte das kleine Mädchen gejauchzt. Beinah wie das Schreibheft der Cousinen, die Zeilen im Märchenbuch der Schwester im Kindergarten.

Ich zog die Mütze fester über die Ohren. „Verjess de Heische nit!“, rief mir die Mutter nach, „komm nit ze spät noh Huus, denk an morjen!“ Hinter mir fiel das Gartentor ins Schloss, ich vergrub die Hände in den Manteltaschen. Da war er, der Stein, den der Großvater lange in der Hand gewogen hatte, da waren sie wieder, seine lieben Großvateraugen, die nachdenklich abwechselnd mich, dann den Stein betrachtet hatten. Und da war sein warmes, dunkles Großvaterbrummen, das sich so friedfertig abhob von den schrillen Stimmen der Mutter, der Großmutter, den knappen, widerwilligen Sätzen des Vaters.

©DVA©

Literaturangabe:

HAHN, ULLA: Aufbruch. DVA, München 2009. S. 592, 24,95 €.

Weblink:

DVA


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