MÜNCHEN (BLK) – Im Mai 2008 erschien Friedrich Anis Kriminalroman „Wer tötet, handelt“ beim Deutschen Taschenbuch Verlag.
Klappentext: Der blinde Jonas Vogel ist gerade auf dem Nachtspaziergang mit seinem Hund, als ihn die Hilferufe eines am Straßenrand liegenden Verletzten hochschrecken lassen. Ein Einbrecher hat dessen Freundin in ihrer Parterrewohnung als Geisel genommen.
Schon als er zum ersten Mal den Namen der jungen Frau hört, ahnt der ehemalige Kommissar, dass er seinem Sohn Max, der als sein Nachfolger den Großeinsatz der Polizei leitet, trotz seiner Behinderung von Nutzen sein kann. Jonas kennt Silvia Klages gut: Ihre Eltern wurden bei einem Überfall vor ihren Augen getötet, und sie gibt sich seither die Schuld an ihrem Tod. Da Vogel weiß, dass schwer depressive Menschen zu jeder Reaktion fähig sind, beschließt er, sich selbst im Tausch als Geisel anzubieten. Wie die Neugierigen hinter den Absperrgittern erstarrt Max entsetzt, als sein Vater nach dem Kopf des Hundes tastet und auf die Haustür aus gelbem Milchglas zugeht …
Friedrich Ani wurde 1959 in Kochel am See geboren. Er arbeitete als Kulturjournalist, Polizeireporter und Drehbuchautor für die Fernsehserien „Tatort“, „Ein Fall für zwei“ und „Faust“. Heute lebt er als Schriftsteller in München. Er schreibt Romane, Erzählungen und Drehbücher und erhielt mehrere Stipendien und Preise. (car/wip)
Leseprobe:
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Prolog
Sonntag, 1. Mai, 2.25 Uhr
Das Klirren der Fensterscheibe mitten in der Nacht.
Das Klirren der Fensterscheibe mitten in der Nacht hörte nicht auf. Es dauerte bestimmt nicht länger als eine Sekunde, aber es hörte nicht auf. Sie war längst wach, da klirrte es immer noch im ganzen Haus.
Von dieser Nacht an klirrte es jede Nacht.
Sie lag im Bett und schreckte hoch.
Manchmal stieß sie einen Schrei aus. Die Bilder, eigenartigerweise, verblaßten, nur das Geräusch blieb. Das ist eigentlich nicht zu begreifen, dachte sie. Die Bilder waren schrecklicher als das Geräusch, die Bilder waren der eigentliche Schrecken, das Geräusch war nur Einbildung, was die Dauer betraf. Eine Fensterscheibe klirrte, eine Sekunde lang, dann war es still. In diesem Moment hatte der wahre Schrecken noch gar nicht begonnen.
Und doch war das Klirren der Beginn.
Danach passierte alles wie in einem Film, der zu langsam lief. Die Stimmen klangen verzerrt und gedehnt, und sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern.
Als sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Eltern öffnete, hatte sie vergessen, wie sie von ihrem Zimmer aus dorthin gelangt war. Sie öffnete die Tür.
Als die Tür plötzlich offen war, hörte sie die Stimme ihrer Mutter. Ihre Mutter schrie den Namen ihres Vaters. Nur den Namen, nichts sonst. Nicht „Hilfe“ oder „Gott“. Die Tochter an der Tür verstand jeden Buchstaben ganz deutlich, jeden einzelnen. Als wäre der Schrei aus sechs gleich laut klingenden Buchstaben zusammengesetzt. Als wäre jeder Buchstabe ein einzelner Schrei. Das sagte sie später immer wieder, in den Nächten, wenn sie aufschreckte, und Roland, ihr Freund, sie in den Arm nahm und nur festhielt, weil er sämtliche Trostworte schon ausprobiert hatte und Silvia nicht zuhörte.
R-A-I-N-E-R.
Was sie hörte, und sonst nichts, waren die Stimme ihrer Mutter und das Klirren und das Knacken. Es war kein Krachen, das betonte sie immer wieder, auch wenn in den
Protokollen der Polizei stand: „Und dann hörte ich ein Krachen.“ Es krachte nicht, nachdem die Stimme aufgehört hatte zu schreien. Es knackte. Jedes Mal, wenn sie das Wort „knacken“ aussprach, begann sie zu weinen. Sie mußte dann an ein Brett denken, das gespalten wurde, an ein Stück Holz, das jemand über dem Knie zerbrach.
An ein Stück Holz mußte sie denken und weinte.
Den Hammer, die Tatwaffe, hatte sie nicht gesehen. Nur den Arm des einen Mannes, der zuschlug. Und sie hatte die Arme des anderen Mannes gesehen, die durch die Luft wirbelten. Es sah nämlich aus, als würde der zweite Mann wie wild tanzen. Auch das hatte sie zu Protokoll gegeben. Das, und nicht etwa: „Und dann hat der eine Mann meine Mutter erschlagen.“ Das hatte sie nicht gesehen.
Sie hatte es gesehen, aber sie hatte das dazugehörige Bild verloren.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie der eine Mann, der Mörder, von der rechten Seite des Bettes zur linken gegangen war, um nach ihrem Vater auch ihre Mutter zu erschlagen.
Sie konnte sich an das zweite Knacken erinnern.
An das zweite Knacken konnte sie sich immer wieder erinnern, bis heute. Aber nicht an das Bild. Das Bild hatte sie verloren wie ihr Kind. Sie war im zweiten Monat schwanger, und Roland wußte nichts davon, und am Ende der Nacht war sie nicht mehr schwanger, und sie mußte es ihm trotzdem erzählen.
Das Bild kehrte nicht zurück, es existierte nicht mehr in ihr. Irgendwo in ihr mußte es versteckt sein, das glaubte sie, und sie fürchtete sich davor, das Bild könnte ans Licht kommen und sie für immer blenden.
Vielleicht würde sie, wenn sie vor diesem Bild erblinden würde, das Knacken nicht mehr hören, ein für allemal.
Das Knacken des Schädels ihres Vaters.
Das Knacken des Schädels ihrer Mutter hörte sie nicht.
Sie hörte es nicht. Sie wollte sich mit aller Kraft daran erinnern, es gelang ihr nicht. Dann erschrak sie zu Tode, weil sie sich so zwanghaft daran erinnern wollte. Sie wollte sich doch gar nicht erinnern, wie ihre Mutter ermordet worden war.
Sie wollte es schon.
Sie war im Zimmer gewesen. Sie hatte das Verbrechen mit angesehen. Sie war die einzige Zeugin. Sie hatte alles gesehen und gehört. Zwar hatten die Täter sie vor ihrer Flucht bewußtlos geschlagen und ihr das Nasenbein gebrochen. Die Verletzungen und ihre schwere Unterleibsblutung hätten jedoch, sagten die Polizisten, auf ihre Aussagefähigkeit keinen Einfluß.
In den Sitzungen mit Dr. Wallhof, der Psychologin, begriff sie, daß die Polizisten recht hatten. Alles, was ihre Aussagefähigkeit beeinflußte, waren das Klirren, das Schreien ihrer Mutter und das Knacken.
Das Klirren.
Das Schreien ihrer Mutter.
Das Knacken.
Und jede Nacht von neuem.
Dann jede zweite Nacht, jede dritte Nacht, einmal im Monat.
Ihre Aussagen ergaben kein vollständiges Bild.
Aber die Täter wurden gefaßt, und sie gestanden die Morde.
Aber der eine hatte 2,0 Promille Alkohol im Blut, der andere 2,1.
Und der eine war achtzehn, der andere neunzehn Jahre alt.
Der eine, der Mörder mit dem erhobenen Arm, der 2,0 Promille im Blut hatte, wurde wegen Totschlags zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Der andere, der wie wild getanzt hatte, was er in der Gerichtsverhandlung tatsächlich zugab, wurde wegen Beihilfe, schwerer Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Die bisherige tadellose Lebensführung der beiden wirkte sich auf das Strafmaß ebenso aus wie ihr Alter und die Tatsache, daß sie den Einbruch und das Verbrechen in volltrunkenem Zustand begangen hatten.
Die Formulierung des Richters von der tadellosen Lebensführung beschäftigte sie monatelang. Sie begriff nicht, was er damit ausdrücken wollte. Die Täter hatten kein Motiv genannt, sie hatten sogar die Aussage verweigert und bei den Vernehmungen behauptet, sie könnten sich an den genauen Tathergang nicht erinnern.
Beinah so wie ich, dachte sie.
Sie hatte die jungen Männer identifizieren müssen. Ihre Gesichter waren nicht vermummt gewesen. Wenn sie einen Mord hätten begehen wollen, wären sie maskiert gewesen. Etwas in der Art hatte einer der Anwälte gesagt.
Warum hatte er das gesagt?
Warum hatte der Richter die Formulierung „tadellose Lebensführung“ benutzt?
Solche Fragen stellte sie in der Nacht ihrem Freund Roland, und er wußte keine Antwort. Er kam zu ihr, um da zu sein, wenn sie aufschreckte und sich die Ohren mit den Fäusten zuhielt.
Zwei Jahre später kam er immer noch fast jede Nacht zu ihr in die Forsterstraße. Manchmal hätte sie wieder gern mit ihm geschlafen. Dann schaffte sie es nicht, sich
auszuziehen.
In jener Nacht im Haus am See war sie nackt gewesen.
Danach nur noch beim Duschen oder Baden zu Hause.
Zwei Jahre später bat sie Roland zum ersten Mal wieder, zu ihr ins Bett zu kommen und sehr behutsamzu sein.
Die Nacht war schwül, und ein Fenster stand offen.
Es klirrte nicht, als der Mann einstieg.
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Literaturangaben:
ANI, FRIEDRICH: Wer tötet, handelt. Kriminalroman. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2008. 176 S., 7,95 €.
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