BERLIN (BLK) – Im Oktober 2008 ist im Berlin Verlag der Reisebericht „Georgisches Reisetagebuch“ von Jonathan Littell erschienen.
Klappentext: Kurz nach dem russisch-georgischen Konflikt ist Jonathan Littell durch den südlichen Kaukasus gereist. Dort ist er den radikal entgegengesetzten Positionen der Akteure begegnet. Und er konnte sich ein Bild machen von jenem anderen Krieg, der den bewaffneten Konflikt überdauern wird: dem Krieg der Propaganda.
Jonathan Littell, 1967 in New York geboren, ist in Frankreich aufgewachsen, wo er 1985 das Abitur machte. Anschließend studierte er an der Yale Universiy(USA). Zwischen 1993 und 2001 arbeitete er für die humanitäre Organisation „Aktion gegen den Hunger“ (ACF) in Bosnien und Afghanistan, im Kongo und in Tschetschenien. Für seinen Roman erhielt er 2006 den Grand Prix du Roman der Académie Française und den Prix Goncourt. (bah/dan)
Leseprobe:
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„Pischite prawilno“, wird einem unaufhörlich gesagt, „schreiben Sie wahrheitsgemäß, schreiben Sie, was wirklich passiert ist.“ Überall bekommt man es zu hören, in Südossetien und Abchasien, aber auch in Georgien selbst, und man würde es ja gern tun – schreiben, was wirklich passiert ist. Doch das ist nicht so leicht. „Jeder erzählt Geschichten, die seine Vorurteile bestätigen“, meint Dan Kunnin, ein amerikanischer Berater des georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili, in seinem Büro des neuen Präsidentenpalasts in Tiflis. Wer ist der Aggressor, wer das Opfer? Für die Georgier sind ihre „territoriale Integrität“ und, daraus folgend, ihr Recht, die beiden separatistischen Regionen mit allen Mitteln wieder unter Kontrolle zu bringen, sakrosankt. Für die Osseten und vor allem die Abchasen ist es eine historische Ungerechtigkeit, und die Vorstellung, eines Tages wieder ein Teil Georgiens zu werden, erscheint ihnen so grotesk, als würde von den Esten verlangt, sich wieder Russland anzuschließen. „Was ich nicht verstehe“, sagt mir eines Tages in Suchumi, der Hauptstadt Abchasiens, der Historiker Stanislaw Laboka, Sekretär des abchasischen Sicherheitsrats, „ist, warum die Menschen im Westen, die sich als entschiedene Gegner Stalins bezeichnen, uns die von Stalin gezogenen Grenzen aufzwingen wollen. „ Nach Überzeugung der Abchasen hat ihre Nation, die sich in ständigem Wettstreit mit den georgischen Fürstentümern befand, nie zu Sakartwelo, zu Georgien, gehört, einem Raum, dessen Grenzen sich ständig veränderten, bevor ihm die nationalistischen Menschewiki und später die bolschewistischen Revolutionäre seine heutige Form gaben. Nach einer weitverbreiteten Auffassung – wenn sie auch von Forschern in Frage gestellt wird, für die die Wirklichkeit sehr viel komplexer ist – hat der Georgier Stalin Georgien 1931 Abchasien als autonome Republik „geschenkt“, während beide vorher innerhalb der Sowjetunion gleichberechtigt waren. Im Dezember 1991 beschlossen die drei slawischen Präsidenten der UdSSR, Boris Jelzin und seine Amtskollegen aus Weißrussland und der Ukraine, dass die Auflösung der Union den Grenzen der fünfzehn Sowjetrepubliken zu folgen habe, freilich ohne autonomen Republiken wie Abchasien, Tschetschenien oder Bergkarabach – um nur diese zu nennen – irgendwelche Rechte einzuräumen, eine einseitige Entscheidung, die über die Köpfe der Beteiligten hinweg getroffen und augenblicklich und bedingungslos von einer internationalen Gemeinschaft anerkannt wurde, für die die Frage der Grenzen, und sei sie noch so willkürlich, das letzte außenpolitische Tabu bleibt, was angesichts der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs nur zu verständlich ist. Dieser Version halten die Georgier entgegen, dass die Abchasen 1991 lediglich 17,8 Prozent der Einwohner Abchasiens (gegenüber 45,7 Prozent Georgiern) stellten und nur dank des sowjetischen Prinzips der „Titularnation“ an der Macht waren. Woraufhin die Abchasen auf Berias Zwangskolonisation Südabchasiens verweisen können und die Georgier auf die ethnische Säuberung nach dem Krieg von 1993 … Endlose und fruchtlose Streitigkeiten, die bislang nur durch Gewalt beigelegt werden konnten, eine Gewalt, die zumindest Fakten schafft, so tragisch sie auch sein mögen. Doch diese Fakten verursachen ihrerseits neue Streitigkeiten, bei denen es um vitale Interessen geht: Wer hat angefangen? Wer ist der Aggressor, wer das Opfer? Wer ist für all die Toten, all die Zerstörung verantwortlich?
In der Version, die die Georgier inzwischen vertreten, haben sie sich nur gegen eine von langer Hand vorbereitete russische Invasion gewehrt. „Etwas anderes zu denken wäre lächerlich“, erklärt Dan Kunnin. Seit Anfang August trieben Überfälle, Attentate und der Artilleriebeschuss georgischer Dörfer um Zchinwali, die ossetische Hauptstadt, die Spannungen mit Südossetien auf die Spitze. Die Reaktion der internationalen Gemeinschaft beschränkte sich im Wesentlichen darauf, den Rat „Lasst euch nicht provozieren“ wie ein Mantra zu wiederholen, was ihr die schwierige Aufgabe ersparte, Druck auf die Russen auszuüben, damit diese ihre ossetischen Schützlinge an die Kandare nähmen. Größere Kampfhandlungen wurden in der Nacht zum 8. August mit dem Beschuss Zchinwalis durch die georgische Artillerie eröffnet, dem der Angriff der Kampftruppen folgte. Notwehr, behaupten die Georgier: Hunderte russischer Panzer hätten bereits den Roki-Tunnel von Russland nach Südossetien passiert, die Anfänge einer regelrechten Invasion; die georgischen Operationen hätten lediglich das Ziel gehabt, diesen russischen Angriff zu stoppen oder zumindest zu verlangsamen. Einen Monat nach diesem Zwischenfall legte die georgische Regierung einen Teilbeweis vor: Aufzeichnungen von Telefongesprächen ossetischer Grenzposten am 7. August gegen 3 Uhr morgens, in denen von russischen Panzern im Tunnel die Rede war. Doch wie die New York Times in dem Artikel anmerkt, in dem sie über diese Aufzeichnungen berichtet, geht aus ihnen weder hervor, um wie viele Panzer es sich handelte, noch welchen Auftrag sie hatten; in gewissem Sinne beweisen die Telefongespräche lediglich, dass die Russen illegale Truppenbewegungen vornahmen, also etwas, was beide Seiten regelmäßig taten. Und wenn es wirklich eine Abwehrmaßnahme war, dann war sie zweifellos selbstmörderisch. Aber welche Wahl hatten wir?, erwidern die Georgier. „Es war die Chronik eines angekündigten Krieges“, erklärte mir spätnachts bei einer Flasche Wein im Foyer des Marriott in Tiflis Giga Bokeria, stellvertretender Außenminister, enger Vertrauter Saakaschwilis und vielleicht einer der einflussreichsten Politiker Georgiens. Bokeria, der uns um Mitternacht treffen wollte, kam zwei Stunden zu spät, aber ihm schien sehr daran gelegen zu sein, uns seine Wirklichkeit zu schildern. „Wie bei García Márquez. Jeder kannte das Szenario.“ Es würde mit Provokationen beginnen, dadurch würden die Georgier zu einer Offensive veranlasst, der russische Gegenschlag würde darauf abzielen, die beiden abtrünnigen Republiken zu besetzen, die georgische Armee zu vernichten, die politische Infrastruktur des Landes, wenn möglich, zu schwächen und sogar die Regierung zu stürzen. „Das Ausmaß war überraschend“, fuhr Giga fort, „doch grundsätzlich wussten wir, dass es passieren würde und dass wir verlieren würden. Aber sie sollten dafür bezahlen, und das tun sie jetzt. Für diese Dörfer und diese zehn Kilometer zahlen sie einen hohen Preis vor der internationalen Gemeinschaft. Der einzige wirkliche Sieg für sie wäre ein Regierungswechsel gewesen. Ohne den haben sie nichts gewonnen.“
Das Problem dieser Version liegt darin, dass sie allen georgischen Erklärungen zum Zeitpunkt der Ereignisse widerspricht. In der Nacht des 7. August, als der Angriff auf Zchinwali begann, verkündete General Mamuka Kuraschwili, der Kommandeur der georgischen Friedenstruppen, im Fernsehen, Georgien habe soeben eine militärische Operation begonnen, „um die verfassungsmäßige Ordnung in Südossetien wiederherzustellen“. Wenig später wandte sich Dmitri Sanakojew, ein ehemaliger Separatist, der sich Tiflis angeschlossen hatte, an die Osseten, um ihnen in ihrer Sprache zu erläutern, dass Georgien ihnen die Demokratie bringe. Niemand hat vor dem 8. August öffentlich von russischen Panzern gesprochen. Privat ist die Sache natürlich etwas komplizierter, besonders in der Rückschau. Die Europäer glauben die georgische Version ganz klar nicht. „Zu keinem Zeitpunkt haben die Georgier sich an ihre europäischen Verbündeten gewandt, um ihnen zu sagen: ‚Die Russen greifen uns an’“, versichert Eric Fournier, der französische Botschafter in Tiflis, kategorisch. Die Amerikaner sind natürlich etwas differenzierter. Matthew Bryza, ein hochrangiger amerikanischer Diplomat, der mehr oder weniger seit den Anfängen der Bush-Administration für die georgischen Angelegenheiten zuständig ist, erklärte mir am Telefon: „Dass die Georgier sich uns gegenüber offener äußern als gegenüber den Europäern, ist angesichts unserer privilegierten Beziehungen normal. Ihr Außenminister Eka Tkeschelaschwili hat mich um 23 Uhr 30 [Tifliser Zeit] angerufen und gesagt: ‚Uns liegen Berichte vor, dass russische Panzer und mehr als tausend Mann in Südossetien einmarschieren. Wir haben keine Wahl, wir brechen die [von Saakaschwili um 19 Uhr verkündete] Waffenruhe.’ Entsprechend meinen Anweisungen antwortete ich ihm: ‚Vermeiden Sie um jeden Preis eine militärische Konfrontation mit den Russen.’ Wie immer es tatsächlich gewesen sein mag, die Georgier waren wirklich überzeugt, dass es sich so abgespielt hat.“
Die russische Version hat zumindest den Vorzug der Klarheit, wenn auch nicht der Ehrlichkeit: Saakaschwili ist ein Psychopath, noch dazu drogensüchtig, der eine Offensive zum Völkermord angezettelt hat, bei der den Russen gar nichts anderes übrig blieb, als Widerstand zu leisten.
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Literaturangaben:
LITTELL, JONATHAN: Georgisches Reisetagebuch. Übersetzt aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2008. 48 S., 5 €.
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