Von Esteban Engel
BERLIN (BLK) – „Widerwärtiger Kitsch“ oder Meisterwerk: Über Jonathan Littells NS-Roman „Die Wohlgesinnten“ gibt es seit Wochen erbitterten Streit unter Literaturkritikern und Historikern in Deutschland. Die fiktiven Memoiren des SS-Führers Max Aue, die auf fast 1400 Seiten bis in qualvolle Details den millionenfachen Mord an den Juden nachzeichnen, spalten die Leserschaft wie wohl kein anderes der jüngsten Bücher über Nationalsozialismus und Holocaust. Mit etwa 120.000 verkauften Exemplaren hat der amerikanisch-französische Autor auf Anhieb die Spitze der Bestseller-Listen erreicht. Am Dienstagabend (13. Mai 2008) diskutierten nun Historiker mit dem Autor in Berlin über das Buch.
Der Lebensbericht des hochgebildeten SS-Mannes Aue, der wie ein Wanderer zwischen den Orten des Grauens mal als distanzierter Beobachter, mal als skrupelloser Täter, sein Todeswerk verrichtet, habe ihn als Leser verändert, bekannte der Historiker Etienne François. Der Direktor des Frankreich-Zentrums der Freien Universität Berlin verglich am Dienstagabend Littells Buch gar mit Tolstois „Krieg und Frieden“.
Wie Tolstoi beleuchte Littell die psychologische Seite seiner Figuren, was Historikern aus Mangel an Quellen verborgen bleibe. „Wir sind zu Lesern geworden, die sich durch das Buch infrage stellen lassen“, sagte François. Littell sagte: „Es ist klar, dass die Literatur für mich Vorrang hat.“
Doch nicht alle Leser wollen in die Lobeshymnen auf ein Buch einstimmen, das in Frankreich 800.000 Mal verkauft wurde und für dessen deutsche Rechte der Berlin Verlag 450.000 Euro zahlte. „Literarisch mittelmäßig bis dürftig“, schrieb Iris Radisch in der „Zeit“. Der „jüdische Autor“ Littell spiele auf mehr als tausend Seiten „SS-Obersturmbannführer“, erkunde, „wie sich Täterschaft von innen anfühlt“, betreibe mit der Beschreibung Aues als „gebildete Bestie“ letztlich aber nur eine „Ehrenrettung des gehobenen Nationalsozialismus“.
Auch die „Jüdische Allgemeine“ nennt das Werk „ein sprachlich und gedanklich verirrtes Stück Prosa“. Das Blatt widerspricht der Behauptung des französischen Filmemachers Claude Lanzmann, Autor der neunstündigen Dokumentation „Shoa“, Littell habe „die Sprache der Henker“ erfunden. Diese sei der Öffentlichkeit spätestens seit dem Eichmann-Prozess 1962 bekannt, den Hannah Arendt zu ihrer Formel der „Banalität des Bösen“ veranlasste, erinnerte der Journalist Wolf Scheller.
Eine „Geografie des Grauens“ habe Littell gezeichnet, schrieb Kurt Kister in der „Süddeutschen Zeitung“. Der Autor erzeuge „Gefühle, Abscheu, Ekel, Bestürzung, schaudernde Spannung, Mitleid“. Kister holt dabei zur Kollegenschelte aus. Es sei „pikant, dass mancher Rezensent, manche Rezensentin, die selbst das mehr oder weniger gehobene Geschwätz in ihren Texten pflegen, genau diese Kunst dem Autor Littell vorwerfen“.
In den Verrissen gehe es auch immer um die Frage, ob man dieses Buch brauche. Vielleicht, mutmaßt Kister, schwinge aus der Nähe deutscher Leser zum Protagonisten und den Schauplätzen des Buches die zum Teil so heftige Ablehnung der monströsen Charakterzüge Aues und der drastischen Sprache Littells mit.
Ähnlich äußerte sich der Autor Klaus Theweleit in der „FAZ“ Er wähnt in der Ablehnung des Buches in Deutschland – im Gegensatz zur Begeisterung in Frankreich – eine Abwehrreaktion. Die Franzosen, so Theweleit ironisch über die „Zeit“-Kritikerin Radisch, hätten mal wieder „keine Ahnung von so urdeutschen Angelegenheiten wie den Massenmorden des Zweiten Weltkriegs“. Littell betreibe eben nicht Thomas Manns „Distanzschreibe“, das Buch sei zwischen historischer Forschung, Beschreibung psychischer Strukturen und einer unerträglichen Sprache aufgespannt.
Für den Historiker Jörg Baberowski (Humboldt-Universität Berlin) birgt „Die Wohlgesinnten“ eine äußert beunruhigende Botschaft. „Was denkbar ist, ist machbar und nicht mehr aus der Welt zu schaffen“, sagte Baberowski zu den ausufernden Beschreibungen der Gewaltorgien in Littells Roman. Reale NS-Täter wie Albert Speer oder der Kommandant des Vernichtungslagers Sobibor, Franz Stangl, hätten sich in Memoiren oder vor Gericht für ihre Taten gerechtfertigt. Nicht Max Aue: Als „Zyniker der Gewalt“ beschreibe die Roman-Figur das Innenleben des NS-Terrors. „Als Historiker hätte ich gerne dieses Buch geschrieben“. Aue gehöre aber in das Reich der Literatur. „Und dort brauchen Schriftsteller sich um die Quellen nicht zu scheren.“
Literaturangaben:
LITTELL, JONATHAN: Die Wohlgesinnten. Roman. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Berlin Verlag, Berlin 2008. 1408 S., 36 €.
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