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„Vaterlosigkeit"

Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee

© Die Berliner Literaturkritik, 09.12.09

Frankfurt am Main (BLK) – Dieter Thomäs im Dezember 2009 herausgegebenes Buch „Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee“ beleuchtet das Phänomen unter Zuhilfenahme kulturwissenschaftlicher Ansätze aus der Feder verschiedener Autoren, die das Thema sowohl historisch zu ergründen, als auch in seiner modernen Ausprägung zu verstehen suchen.

Klappentext: Väter beschäftigen sich heutzutage gerne mit der Suche nach sich selbst. Dass sie im familiären Rollenspiel aus dem Tritt geraten oder gewissermaßen „von der Rolle“ sind, ist kein Wunder. Schließlich geht die Krise der Vaterschaft direkt auf die Gründungsakte der modernen Gesellschaft zurück: Sie inszeniert Vaterabschaffung und Vaterlosigkeit, lange bevor diese mit Mitscherlichs Buch „ Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ sprichwörtlich geworden sind. Im vorliegenden Band wird ein Bogen geschlagen, der vom frühen Tod des Patriarchen über die angeschlagenen Väter des 20. Jahrhunderts bis zum Siegeszug der Individualisten und der von Jugendlichen und Berufsjugendlichen bestückten Peergroups reicht. So zeichnen renommierte Kulturwissenschaftlerinnen und Kulturwissenschaftler in diesem Band das Bild einer anderen Geschichte der Moderne; auf überraschende Weise wird in ihr das Private politisch und das Politische privat.

Dieter Thomä, geb. 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen und derzeit Fellow am Getty Research Institute, Los Angeles. Veröffentlichungen u.a.: „Die Zeit des Selbst und die Zeit danach“; „Zur Kritik der Textgeschichte Martin Heideggers 1910-1976“ (1990); „Eltern. Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform“ (1992); „Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem“ (1998); „Unter Amerikanern. Eine Lebensart wird besichtigt“ (2000).

Leseprobe:

©Suhrkamp©

Wenn dieses Buch den Titel „Mutterlosigkeit“ trüge, würde es bei vielen, die es zur Hand nähmen, Befremden auslösen. Zwar können besondere Umstände dazu führen, dass Kinder ohne Mutter aufwachsen. Doch offensichtlich genügt dies nicht, um so etwas wie „Mutterlosigkeit“  im Sprachgebrauch zu etablieren. Dass Mütter pauschal vermisst gemeldet werden, scheint undenkbar. Doch von Vaterlosigkeit als einem verallgemeinerbaren Befund darf die Rede sein. Dies muss damit zu tun haben, dass das Fehlen oder Verschwinden bei Vätern weniger undenkbar ist als bei Müttern. In der Tat gibt es hier verschiedene Umstände, die Distanz schaffen. Zur Vaterlosigkeit passen Väter, die ganz verschwunden sind; doch auch als Anwesende können Väter seltsam abwesend, als Abwesende seltsam anwesend wirken. All diese Fälle sind für Erfahrungen der Vaterlosigkeit gut, und man kann sich leicht vorstellen, dass sie massenweise auftreten.Dass eher den Vätern als den Müttern Abwesenheit zugetraut wird, hat nicht nur mit Männern zu tun, die zu Nestflüchtern der besonderen Art werden; Vaterlosigkeit kann auch dann grassieren, wenn nicht reale, sondern ideelle Väter abhandenkommen; dieser Vorgang passt zu Müttern trotz aller Spekulationen über eine Urmutter nicht so recht. Meldungen über Vaterlosigkeit können demnach auch dann kursieren, wenn reale Väter präsent sind. Das Phänomen der Vaterlosigkeit schillert zwischen realen Erfahrungen und symbolischen Konstellationen. Es betrifft die Vaterlosigkeit zahlloser Kinder nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts ebenso wie etwa die Vaterlosigkeit, die als Abwesenheit Gottes konstruiert wird. Der Reiz des Nachdenkens über Vaterlosigkeit besteht darin, dass eine Frage, die die Menschen im Innersten berührt – nämlich das Verhältnis zwischen den Generationen und der darin wirksame Status der Väter –, verschränkt ist mit symbolischen Ordnungen und historischen Umbrüchen, die weit über die individuelle Existenz hinausreichen. Die Diskurse zu Vaterschaft und Vaterlosigkeit sind lebensnah und geschichtsträchtig, vertraut und verdreht zugleich.

©Suhrkamp©

Literaturangabe:

THOMÄ, DIETER: Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 284 S., 12,00 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


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