JUREIT, ULRIKE; SCHNEIDER, CHRISTIAN. Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Klett-Cotta, Stuttgart 2010. 257 S., 21,95 €.
Von Peter Schulz
Auschwitz scheint der ultimative Ort der Erinnerung an den Holocaust zu sein. Alljährlich besuchen Tausende den Ort des Schreckens, die Stätte des Zivilisationsbruches, den Platz der Vergangenheitsbewältigung. Besucher strömen durch die Baracken, fotografieren sich am Krematorium oder am Eingangstor, wo deutlich „Arbeit macht frei“ zu lesen ist. Wozu Menschen solche Fotos brauchen, bleibt wohl – selbst für jene – ein großes Rätsel. Zudem zeigt man ein bisschen Betroffenheit und predigt die Phrasen, die allgemein anerkannt sind. So sieht das Erinnern an den Nationalsozialismus und die Aufarbeitung der Vergangenheit oft aus.
Die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe Christian Schneider haben nun ein – für manche – heikles Buch mit dem provokanten Titel „Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ geschrieben. Jureit und Schneider beschäftigen sich darin kritisch mit der exzessiven Opferidentifikation und behandeln ebenso die über allem stehende Trauer als Erinnerungspolitik.
Die am Hamburger Institut für Sozialforschung tätige Ulrike Jureit setzt sich mit der Identifikation als Opfer und der dazugehörigen Hoffnung auf Erlösung auseinander und untersucht die praktische Umsetzung des Erinnerns. Dabei wird die Erinnerung zum alltäglichen Zustand der Gesellschaft und genügend Betroffenheit demonstriert Aufarbeitung und Trauer. Die „bei solchen Anlässen zur Schau gestellte Moral, das inszenierte Übermaß an Sentimentalität und Pathos lösen zunehmend Erschöpfung, Langeweile und ein deutliches Unbehagen aus, selbst bei denjenigen, die den Nationalsozialismus nicht im Mülleimer der Geschichte entsorgen wollen.“ Sie kritisiert weiterhin eine Gedenkkultur, deren Gesetz Identifikation und Versöhnung ist. Dabei stellt Ulrike Jureit ein Missverständnis zwischen Erinnerung und Erlösung fest und provoziert mit dem Satz: „Wer nur aufrichtig und intensiv genug an die deutschen Massenverbrechen erinnert, der darf auf Versöhnung, ja auf Erlösung von der überlieferten Schuld hoffen.“ Als Beispiele dienen ihr dabei zum einen die emotional aufgeladene Debatte im Jahr 2006 um den Literaturnobelpreisträger Günter Grass und dessen Mitgliedschaft in der Waffen-SS im Jahre 2006 und zum anderen die jahrelange Diskussion um das Holocaust-Mahnmal und seinen Protagonisten.
Eine andere Form des Erinnerns, so Jureit, muss zwangsläufig durch die dritte Generation gebildet werden. Diese dritte Generation hat womöglich keinen oder nur noch wenig Bezug zur deutschen Vergangenheit, entwickelt ein anderes Verständnis zum Gedenken, das die zweite Generation, vorwiegend jene, die im Parlament sitzen, gleich als Fehler sehen, doch, entgegnet sie, „diese Differenz allerdings als Mangel zu empfinden und als emotionales Defizit zu entwerten, kennzeichnet eine Generation, die sich moralisch immer noch für unangreifbar hält“.
Der von Christian Schneider verfasste zweite Teil des Buches beschäftigt sich anfangs mit den in der Nachkriegszeit veröffentlichten Werken einiger Intellektueller. Alle um die Zeit der 68er-Jahre erschienen, bestimmten sie die Debatte um die Aufarbeitung der Vergangenheit. Zum einen muss Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ genannt werden, der in Auschwitz einen Ersatz für seine Gesellschaftskritik Verwendung fand. Ein anderer Intellektueller veröffentlichte 1968 sein Werk und berief sich darin auf Siegmund Freud und Karl Marx: Jürgen Habermas mit seiner Schrift „Erkenntnis und Interesse“. Die dritte Publikation in dieser Reihe ist das von Alexander und Margarete Mitscherlich veröffentlichte Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ und Schneider kritisiert darin, dass der Begriff der Trauer metaphorisiert und inflationiert wird. „Um es deutlich zu sagen:“, schreibt Schneider, „Man kann den mörderischen Vorgang, um den es geht, genauso wenig betrauern wie man ihn ’bewältigen’ kann“.
Seit dieser Zeit heißt die Maxime Trauern um die Toten, und wo Trauer stattfindet, ist Betroffenheit nicht weit. Die Frage jedoch, die sich stellt, ist, ob dies wirklich die einzige Lösung ist, die Vergangenheit zu bearbeiten. Christian Schneider zeigt in seinem Kapitel „Sigmund Freud: Trauer und Melancholie“ auf, wie die These der Mitscherlichs an der Theorie von Freud vorbeiging und „eben diese Vermengung von Analyse und Moral ist kennzeichnend für die neue deutsche Vergangenheitspolitik. Sie bildet die Basis für den neuen deutschen Verhaltenskanon im Umgang mit der NS-Vergangenheit. Er umfasst normative Verbote – etwa das, den Holocaust mit anderen Makroverbrechen zu vergleichen – ebenso wie das kategorische Gebot zu erinnern“. Da ist es dann auch nicht verwunderlich, dass in der deutschen Öffentlichkeit das kleine Buch „Humana conditio“ des Soziologen Norbert Elias weitestgehend ignoriert wurde, der damals, 1985, zum 40. Jahrestag des Kriegsendes, Trauer individualisierte, das moralisch überhebliche WIR abzulegen gedachte und damit einen Gegenvorschlag machte zum Trauerkult der Bundesrepublik.
Gelernt scheinen die Deutschen nicht zu haben, wenn man betrachtet, wie aufgeladen in Deutschland debattiert wurde, wenn Menschen dem Zeitgeist widerstanden. Als 1988 der damalige Bundestagspräsident Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der Reichsprogromnacht die Rede hielt, war das ein Skandal, weil er sich als Zeitzeuge nicht genügend distanzierte; dazu war der Vortrag rhetorisch ein Desaster. Ein anderes Beispiel ist der von Martin Walser veröffentlichte Roman „Tod eines Kritikers“ im Jahre 2002 und die vier Jahre zuvor gehaltene Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und der Kritik an der „Moralkeule Auschwitz“.
Die Lösung einer neuen Gedenkkultur ist sehr plausibel. Christian Schneider nennt das „Selbstreflexion im verlorenen Anderen“ und meint die Unterschiedlichkeit der Menschen. Dabei geht es ihm auch, angesichts des Generationenunterschieds darum, zu untersuchen, wie das Dritte Reich unter denen wahrgenommen wird, die in ihm lebten und darum, diese Wahrnehmung anzuerkennen und die Frage nach dem Guten im Nationalsozialismus zu stellen. Dabei ist jedoch eine andere Frage entscheidend: „Was ist das Gute im Bewusstsein von wem?“ Da darf auch ruhig mal der Moralapostel seine Ohren öffnen, ohne gleich den Zeigefinger zu heben.
Es wird also Zeit, dass die moralisch Überheblichen aufhören zu definieren, wie korrekt oder unkorrekt die Vergangenheit bewältigt wird, was gesagt werden darf und was nicht. Denn Aufarbeitung der Vergangenheit heißt nicht, immer wieder dieselben Sätze vom Nie wieder, Nicht vergessen und Erinnern zu sagen, die allgemein anerkannt sind. Das ist zwar richtig, aber heißt nicht unbedingt, dass man zu dem wird, was alle fordern: einem Menschen mit Mut, kritischem Verstand und eigener Meinung. Das darf nicht erst bei einem Besuch eines Konzentrationslagers beginnen, sondern fängt womöglich schon im alltäglichen Miteinander an.
Ulrike Jureit und Christian Schneider haben jedenfalls ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, das Aufmerksamkeit und Nachdenken verdient und hoffentlich dazu beitragen kann, die zukünftige Vergangenheitsbewältigung zu überdenken. Man kann ihnen nur für dieses Buch nur danken.