Von Gerd Korinthenberg
MARL / RECKLINGHAUSEN (BLK) – Das blassgrüne Programmheftchen im Reclam-Format mit der weltbekannten Aufschrift „Anna Karenina“ lässt ahnen: Mit Leo Tolstois dickleibigem Epos als einem der feingesponnensten Werke der europäischen Romanliteratur hat der Theaterabend wenig zu tun. Die Dramatisierung des Klassikers, mit dem der russische Moralist dem verblühenden Adel seiner Zeit einen Spiegel vorhielt und tiefe Einblicke in soziale und seelische Abgründe gewährte, bleibt auch nach etlichen Versuchen wagemutig: Als Koproduktion mit dem Berliner Maxim Gorki Theater erlebte die Bühnenfassung von Intendant Armin Petras am Freitagabend (16. Mai 2008) bei den Ruhrfestspielen in einer Industriehalle in Marl ihre Uraufführung. Doch die gut dreistündige „Taschenbuchversion“, die in Berlin am 27. Mai Premiere haben wird, bleibt in ihrer raschen Durchschaubarkeit unbefriedigend.
Gorki-Chef Petras schrumpft Tolstois gewaltiges Romanpersonal auf sieben Menschen im direkten Umfeld der Karenina, die er mit Hausregisseur Jan Bosse für drei Stunden in einer wabenartig gestapelten Setzkastenbühne agieren lässt. Wirkliches Gefühl und Nähe, so vermittelt das leicht lesbare Bühnenbild von Stéphane Laimé, sind zwischenmenschlich kaum möglich. Geschickt eingesetzt der allerdings bereits bekannte Bühnen-Kniff, die (Roman)-Handlung durch von den Schauspielern erzählte „Zwischentitel“ voranzubringen und das Publikum direkt anzusprechen.
Eher in der „Szene“ von Jung-Beamten und Boheme als auf russischen Adelsgütern angesiedelt, dürfen die Akteure auch hier und da „berlinern“, changiert die Petras-Fassung ungeniert zwischen Vorabend-Soap und – erst gegen Schluss – wirklichem Seelendrama. Hierbei schlägt natürlich vor allem die Stunde der von Fritzi Haberlandt mal zerbrechlich, mal entschlossen verkörperten Karenina, die auf der Suche nach ihrem persönlichen Glück zwischen Ehemann und Liebhaber Wronski (Milan Peschel) zerrissen wird. Letzterem ist in seinen Wut- oder Verzweiflungsanfällen echtes Leid noch am ehesten abzunehmen. Sonst verharren die Männer des Abends – wie etwa der von Tolstoi mit eigenen Zügen ausgestattete schwärmerisch-agnostische Lewin (Robert Kuchenbuch) – eher in Nebenrollen.
Das legitime Experiment der „Übersetzung“ des 1877 von Tolstoi unter Mühen vollendeten Romans für heutige Zeitgenossen muss scheitern, auch wenn man gutwillig das gewaltige Original als Vergleich „vergisst“. Oft zu platt kommen die Dialoge im lockeren Jargon daher, als dass sie den Akteuren wirklich subtile Möglichkeit seelischer Ent- oder Verwicklung und dem Publikum „Mitleid“ gestatteten.
Oder welch promisker Politiker oder schwule Bürgermeister muss sich heute, wie Minister Karenin (Ronald Kukulies), Angst um Karriere oder Kollegengunst machen, wenn das Private in Schräglage gerät, wenn ihm die Gattin durchbrennt? Zu simpel die Symbolik, wenn sich die naive Kitty oder Annas Schwägerin Dascha, dargestellt von Claudia Geisler, aus Frust über die Männerwelt mit Pappkartons oder Klebeband in ihren „Setzkästen“ abschotten, wenn beim handgreiflichen Showdown der Rivalen Karenin und Wronski die Bühnen-Gipsplattenwelt in der Marler Halle partiell in staubende Trümmer fällt.
So gehört die Szene, in der Karenin-Kukulies zugleich in die Rolle seines achtjährigen, von der Mutter verlassenen Sohnes schlüpft, zu den überzeugenderen Momenten des vom Premierenpublikum lebhaft beklatschten Abends. Auch wenn hier nicht die politischen Dimensionen von Macht offengelegt werden: Das windschnittige Machtstreben mancher Manager und Magnaten mag im Bedürfnis liegen, unumschränkt geliebt zu werden.
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