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Vermessung einer fremden Welt – Arnold Hottingers „Die Länder des Islam“

Historisch-politische Betrachtungen über den Islam

© Die Berliner Literaturkritik, 10.07.08

 

Der 1926 in der Schweiz geborene, promovierte Orientalist und Romanist Arnold Hottinger gehört zu den besonders angesehenen Berichterstattern über die islamischen Länder. In seinem jüngsten, leicht verständlichen und durch zahlreiche eingefügte Zwischenüberschriften sehr übersichtlichen Buch umreißt er auf 360 Seiten nicht immer unpolemisch, doch meist sehr sachlich ihre Geschichte und aktuelle Lage. In dem ersten und umfangreichsten Teil behandelt er die „Kernländer des Islam“, also Ägypten, den Irak, die arabische Wüste, die großsyrische Region und den Iran. Im zweiten Teil schildert er „Das Umfeld der Kernstaaten des Islam“: Pakistan, Afghanistan, den Jemen, Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen und die Türkei. Der dritte, letzte und kürzeste Teil, „Der Einbruch der Moderne“, stellt die Probleme der islamischen Länder dar, die aus dem Zwiespalt zwischen der durchaus erwünschten und angestrebten Modernisierung und dem Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der Traditionen islamischen Lebens entstehen.

Man kann die drei Teile sowie die Abschnitte zu den einzelnen Ländern für sich lesen. Diese Abschnitte sind meist ähnlich aufgebaut: Hottinger beginnt mit einem kurzen Überblick über den Kulturraum, die Charakteristika der Landschaft und die geographischen Gegebenheiten sowie die frühgeschichtliche Entwicklung, durch die die Lebensformen und die wirtschaftlichen Verhältnisse oftmals für Jahrhunderte, wenn nicht für Jahrtausende geprägt wurden; anschließend widmet er sich der Geschichte und, mit zunehmender Ausführlichkeit, den jüngsten politischen Entwicklungen.

Das wichtigste Anliegen Hottingers scheint in der Absicht zu bestehen, einem totalisierenden und dämonisierenden Bild des Islam entgegentreten und den islamischen Kulturraum in seiner Vielgestaltigkeit auffächern zu wollen: Deshalb hebt er die Vielfalt der historischen und politischen Entwicklungen und der Religionsvorstellungen hervor; und deshalb betont er auch, dass der Koran eine vieldeutig auslegbare Schrift sei, in der sich widersprüchliche Aussagen fänden, und dass es nicht nur die eine Religion des Islam gäbe, die in unveränderlicher Weise das Leben der Menschen geprägt habe.

Die Moderne habe in den islamischen Ländern zumeist in brutaler Form Einzug gehalten, weil die Levante seit dem frühen 19. Jahrhundert Interessensphäre der europäischen Mächte gewesen war. Der europäische „Kolonialismus“ habe sich nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und der daraus folgenden Aufteilung voll ausgewirkt – doch betont Hottinger selbst, dass Großbritannien vor 1914 ein Interesse an dem Erhalt des Osmanischen Reiches gehabt hatte. Er kritisiert den „Kolonialismus“ Frankreichs und Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert und dessen Folgen, wobei er die Unterschiede zwischen der Politik dieser beiden europäischen Mächte und deren Wandlungen unberücksichtigt lässt.

Angesichts der Arabischen Revolte von 1916 bis 1918 (an der auch Iraker beteiligt waren), verwundert Hottingers Ansicht, dass nur Großbritannien, aber nicht der Irak Faisal gegenüber eine Dankesschuld zu begleichen gehabt habe. Hottinger erweckt den Eindruck, als ob es sich bei den Mandatsregelungen nach dem Ersten Weltkrieg um nichts anderes als altbekannte Formen kolonialer Herrschaft gehandelt habe. (Andererseits erwähnt er, dass auch der Irak durch die britische Mandatsmacht „seiner künftigen Unabhängigkeit“ zugeführt werden sollte.) Aber wenn er ohne weitergehende Erläuterungen schreibt, dass in Palästina, im Irak und in Transjordanien „Kolonialarmeen“ der Briten einzogen, dann ist das für einen mit der Geschichte jener Jahre unvertrauten Leser schlichtweg irreführend.

Europa ist für Hottinger stärker mit seiner Vergangenheit verbunden als die islamische Welt: Auch wenn sich in der muslimischen Welt die „Sprache, die Religion, Aspekte des Familienlebens und der politischen Führung“ erhalten hätten, entstamme eine „weiter wachsende Schicht von Bestandteilen des materiellen Lebens, des Brauchtums, des Geisteslebens, der Wirtschaft“ einem fremden, nämlich dem westlichen Kulturkreis. Zwar sei auch der Westen dem Sog des Fortschritts und der Technisierung ausgeliefert, doch gelte für die islamische Welt, dass Fremdes als erfolgreich, das Eigene wohl als ehrwürdig, selten aber als zukunftsträchtig angesehen werde: Deshalb müssen auch die islamischen Länder die technischen und aus dem Westen stammenden Errungenschaften übernehmen, wenn sie überleben und sich nicht selbst aufgeben wollen. Hottinger nennt es den „Zwang zur Modernisierung“.

Dennoch kritisiert Hottinger die Verwestlichung und „Fremdbestimmung der islamischen Gesellschaften“ und den „weiter überhandnehmenden Umbau nach europäischen Vorbildern“, mit denen die Instabilität in diesen Ländern in ursächlichem Zusammenhang stehe. Entscheidend ist für Hottinger „das Grundgefühl eines Selbstverlusts“. Auch die „Unfähigkeit zur Selbstkritik“ und die „Sucht“, anderen, dem Westen also, die Schuld an der eigenen Lage zuzuschreiben, habe mit verletzten Identitätsgefühlen zu tun. Die Lösung könne nur darin bestehen, eine neue Identität aufzubauen, die Moderne und Tradition harmonisiere und alles Fortschrittliche nicht mehr als etwas Fremdes stigmatisiere. Es müsse den Menschen der islamischen Länder möglich werden, sich als Mitwirkende „im Prozess der weltweiten Modernisierung“ zu begreifen.

Obwohl Hottinger die Vielfalt des Islam herauszustellen bemüht ist, konstatiert er ähnliche Reaktionen auf ausländische Besetzung und Einflussnahme in den islamischen Ländern: denn trotz der kulturellen und geographisch bedingten Verschiedenartigkeit der muslimischen Länder „reagieren doch alle in ähnlicher Art auf die neue Lage“, weil sie einer „weitgehend identischen, von außen her eindringenden Moderne gegenüberstehen.“ In der extremen Form führe diese Reaktion zum Versuch, die Bevölkerung „im Rahmen eines mystisch inspirierten Islam zu mobilisieren und Gottesstaaten unter der Führung der islamischen Gotteskämpfer zu errichten.“ Auch wenn sich ein solcher Islamismus, den Hottinger nicht als eine religiöse, sondern als eine politische Oppositionsideologie versteht, „überall in der islamischen Welt“ ausbreite, sei er „nach wie vor eine Sache von Minderheiten“; und der gewaltbereite Islamismus werde wiederum von – einer stark motivierten – Minderheit der Minderheit getragen.

Hottinger liegt ganz im Meinungstrend, wenn er seine schärfste Kritik der Irak-Politik der Bush-Regierung vorbehält, und er spricht in polemischer Absicht von dem „Bush-Regime“ (was ein höchst verächtlicher Begriff für die Regierung eines demokratischen Staates ist). Nach Hottinger sei die iranische Diplomatie gesprächsbereiter als die US-amerikanische, die den Iran „als einen Teil ‚der Achse des Bösen‘“ betrachte und sich weigere, mit dem Iran in Verhandlungen zu treten. Er hält es für eine große Gefahr, dass Bush noch vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit „einen Waffengang gegen Iran auslösen könnte“. Und es erstaunt, dass Saddam Hussein, der sich in seiner Herrschaftsausübung bewusst an Stalin orientiert habe, von Hottinger weniger feindselig dargestellt wird als der amerikanische Präsident. Ob die USA sich ihrerseits nach dem 11. September bedroht gefühlt haben könnten, ähnlich der islamischen Welt durch die westliche Moderne, diese Frage zieht Hottinger jedenfalls nicht in Betracht.

Das Bemühen der amerikanischen Besatzungspolitik im Irak um eine Demokratie nach amerikanischem Modell ist für Hottinger unrealistisch. Vielmehr sieht er die „Gefahr eines Vollbürgerkrieges“. Andererseits stellt er Mesopotamien, wo die Menschen kämpferischer und manchmal auch brutaler seien, als ein „Durchgangsland“ dar, in dem das Leben stets dynamischer und gefährlicher gewesen sei als im „Sackgassenland Ägypten“: Er bezeichnet den Irak als ein unglückliches Land, das „immer schwer zu regieren [war], weil es aus lauter bitter rivalisierenden Gruppen bestand“, und eine „Zusammenarbeit der verschiedenen Gruppen fand nie statt.“ So könnte sich der Leser fragen, wie es dann die amerikanischen Besatzer bewerkstelligen sollten, ein solches Land in nur fünf Jahren zu befrieden?

Hottingers Bemühen, die Bedrohungsgefühle zahlreicher Menschen in den islamischen Ländern verständlich und begreifbar zu machen, verdient große Anerkennung. Es gelingt ihm auf Kosten eines – sich hoffentlich nicht notwendig bedingenden – Unverständnisses für die westliche Welt, die er anscheinend nicht mit der gleichen Anteilnahme und auf jeden Fall kritikbereiter betrachten möchte. Und ob seine Darstellung durch die Einbeziehung der maghrebinischen Länder – des, wie er es nennt, „nordafrikanischen Armes“ des Islam – inhaltlich gewonnen hat, erscheint fraglich.

Arnold Hottingers neuem Buch wird gewiss großes Lob zuteil werden. Ausgesprochen gelungen ist es, wie er die Lebensweise und Kultur der Beduinen, die revolutionären Ursprünge und Wurzeln des aus einer Oppositionshaltung entstandenen Schiismus, die Unterschiede von Schiiten und Sunniten und die Situation der Kurden und die PKK darstellt. Wenn es aber um eine Einführung in die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens geht, würde der Rezensent den englischsprachigen Darstellungen von Malcolm Yapp, Peter Mansfield und William Cleveland den Vorzug geben.

Von Andreas R. Klose

Literaturangaben:
HOTTINGER, ARNOLD: Die Länder des Islam. Geschichte, Traditionen und der Einbruch der Moderne. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2008. 379 S., 34,90 €.

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