Wahrlich, das Wort „Krise“ gehört zweifelsohne zu den überstrapaziertesten Begriffen des letzten Jahres. Allerorts stößt jenes knappe Unwort indessen auf entnervte Gemüter. Krise, wohin wir nur schauen. Längst verbirgt die abstrakte Totschlagvokabel nicht nur einen politischen oder gar rein finanzpolitischen Horizont, sondern eröffnet schon eine breite, kulturelle Dimension. So spricht auch der Volkswirt Hans-Peter Raddatz in seinem neuen Analysewerk „Der Absturz – Anatomie einer Systemkrise“ zum Kollaps der Finanzwelt immer wieder von der Kultur, die das Geld als Heilsversprechen des 21. Jahrhunderts vergöttlicht.
Während der „sexuelle Aspekt“ des bewegbaren, digital stets verfügbaren Kapitals die Geilheit der Marktakteure angestachelt hat, ist das Geld schon leise in den Genuss einer apotheotischen Verheißung gelangt. Dass das ungebremste Wachstum aus dieser Sicht zwar attraktiv anklingen mag, ist nachvollziehbar, aber moralisch fragwürdig. Ferner spricht Raddatz von der „Psychologie des Geldes“, die den Markt zu wilden Seiltänzen im schier unüberschaubaren Derivatedschungel anstachelte und der Spekulationsgier zu ungekannten Höhenflügen verhalf. Obwohl auch die politische Ebene sich keines Versagens entledigen könne, lenkt der Autor die Aufmerksamkeit dabei aber vor allem auf eine unlängst enthemmte, im permanenter Rauschekstase befindlichen Klasse der „gierigen Manager“, deren blinde Renditesucht dem Markt den letzten Schuss verpasst haben soll.
High sein, bis der Absturz naht. Wenn die Verführung der Rendite stets zu verlocken weiß, hält den geilen Lüstling keine Warnung vor den Folgen der verbotenen Potenztablette mehr ab, immer höher und weiter zu einem utopischen Höhepunkt zu kommen. Und dann die Blase, die Erbsünde einer geldverblendeten Elite. Raddatz’ Anklage ist scharf. Voller Radikalität sprengt sie die Festen marktradikaler Ideologien. Im Sinne des Gemeinwohls verurteilt er das unreflektierte Gewinnstreben einer realitätsfernen Kaste, deren Fehlkalkulationen letztlich solidarisiert werden.
Wenn insolvente Unternehmen und systemrelevante Banken schon die Hilfe des Staates als determinierbare Konstante betrachten, müsse die Ordnung gänzlich erneuert werden. Nicht weit liegt da noch der Gedanke, den sogenannten „Raptoren“ des Marktes die weisende Hand der Regulierung zu weisen. „Beim Raptor handelt es sich zunächst um eine kleinere Variante des Raubtiers, der in Steven Spielbergs ‚Jurassic Park’ seinen unstillbaren Drang vorführt, große Fleischstücke aus seinen Opfern zu reißen und sich in Windeseile einzuverleiben.“ Indem Raddatz die Metapher des giergeleiteten Raptors auf Unternehmen wie Enron überträgt, gewinnt die rabiate Abrechnung an weiterer Spannung und gibt den Sprengstoff zur kontroversen Debatte.
Wer Diskussion möchte, muss provozieren. Das weiß der Autor. Dennoch sei es erlaubt, dessen rhetorische Überfrachtung ebenfalls kritisch zu hinterfragen. Schaumschlägerei allein reicht nicht aus, um mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Denn gerade diese sollten jetzt im Zentrum eines wirtschaftspolitischen Neuanfanges stehen. In der angriffslustigen Systemkritik von Hans-Peter Raddatz ist davon jedoch keine Spur finden. Im Gegenteil: Nachdem die Entstehung der Marktblasen wissenschaftssprachlich vollkommen undurchsichtig in aller Ausführlichkeit skizziert ist, bleiben notwendige Zukunftsmodelle explizit aus oder sind allenfalls in vagen Aussagekonstruktionen angedeutet. Mögen die Ansätze von einer weit in die Kultur hineinreichenden Entwicklung sowie einer managementsverschuldeten Krise durchaus noch vertretbar erscheinen, so wird Schießpulver und unnötige Verkomplizierung dem Problem wohl kaum gerecht.
Literaturangabe:
RADDATZ, HANS-PETER: Der Absturz – Anatomie einer Systemkrise. wjs Verlag Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2009. 231 S., 22 Euro.
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