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Verstörende Albtraumszenarien

Hyakken Uchidas Erzählband „Aus dem Schattenreich“

© Die Berliner Literaturkritik, 04.03.10

Von Christoph Held

Den Namen des japanischen Schriftstellers Hyakken Uchida – chi wie chicken – kennen hierzulande wohl die wenigsten, und selbst unter Japanologiestudenten dürfte es einige geben, die ihn noch nie gehört haben. In Japan ist das lange Zeit nicht anders gewesen. Erst 10 Jahre nach seinem Tod – Uchida starb 1971 im Alter von 81 Jahren – fand so etwas wie ein Revival statt, dessen denkmalsetzenden Höhepunkt der letzte Film des großen japanischen Regisseurs Akira Kurosawa bildete: „Madadayo“ von 1993 ist die filmische Adaption einer der autobiographischen Kurzgeschichten Uchidas und gleichzeitig eine liebevolle Hommage an den exzentrischen Sonderling.

Heute gilt der studierte Germanist als einer der wichtigsten Impulsgeber für die japanische Gegenwartsliteratur. Die Symbiose von Modernität und Fantastik, wie sie derzeit etwa Haruki Murakami in postmoderner Steigerung welterfolgreich be- und vertreibt, fand in Japan bei Uchida ihre Vorbereitung. Mit seinen fantastischen Geschichten gelang ihm wie kaum einem anderen japanischen Schriftsteller seiner Generation der thematische und erzähltechnische Brückenschlag zwischen einer gerade erst verabschiedeten Vormoderne und einer noch unsicher aber unaufhaltsam nach Westen driftenden (literarischen) Moderne. Davon zeugt unter anderem der 1922 erstmalig publizierte Erzählungsband „Aus dem Schattenreich“, dank einer hervorragenden Übersetzung von Lisette Gebhardt nun auch in deutscher Sprache.

Ein zumeist namenloser Ich-Erzähler irrt, taumelt, stolpert, flüchtet, hetzt durch die achtzehn kurzen Erzählungen, dunkle Albtraumszenarien, in denen herkömmliche Raum- und Zeitgesetze gebogen oder aufgelöst sind: Urplötzlich wird der Tag zur Nacht, wechseln Sonnenlicht und Finsternis, verändert sich die Umgebung, dehnt sich das Wahrgenommene in unübersichtliche Weite oder staucht sich zu klaustrophobischer Dichte zusammen. Auch Menschen und Tiere wandeln ihre Gestalt oder sind unheimliche Mischwesen. Indem Uchida dabei leicht augenzwinkernd auf das Inventar traditioneller japanischer Geistergeschichten und Volksmythen zurückgreift – eine seiner Lieblingsfiguren ist der klassische Zauberfuchs, der sich in eine hübsche Frau verwandelt, um die Menschen an der Nase herum und ins Unglück zu führen – gelingt es ihm auf herrlich paradoxe Weise, den traumhaft-grotesken Geschehnissen einen eigentümlichen Realitätscharakter zu verleihen. Denn für die Handelnden ist in ihrem archaisch-völkischen Aberglauben die Existenz von Geistern und Fabelwesen selbstverständlich und wird nie angezweifelt. Auch nicht vom stets zaudernden und leicht panikanfälligen Ich-Erzähler, durch dessen Wahrnehmung die geschilderte Außenwelt ja nur den Leser erreicht.

In einer der besten Erzählungen findet sich der Protagonist ratlos „inmitten einer unendlich weiten Ebene“, verwandelt in „ein schreckliches Ungetüm, mit dem Körper eines Rinds und dem Kopf eines Menschen“. Die Situation wird aber erst als beunruhigend empfunden, als riesige Menschenmassen herbeiströmen und ihn umzingeln, da man von Fabeltieren wie ihm Prophezeiungen über die Zukunft erwartet. Ähnlich wie bei Kafka – die Assoziation scheint unvermeidlich – entsteht die erdrückende Atmosphäre aus der ins Absurde überzeichneten, sich unschuldig gebenden Grausamkeit, hinter der sich erkennbar real-menschliche Verhaltensweisen verbergen: „Die Nacht geht zu Ende. Inmitten der weiten Ebene bilden die vielen Menschen in einiger Entfernung um mich herum einen Kreis. Erschreckend viele, ich kann nicht sagen wie viele Tausend oder gar Zehntausend. Ein paar Dutzend davon treten vor mich hin und betätigen sich geschäftig. Sie schleppen Bauholz heran und errichten einen langen Zaun, der mich umschließt. Dahinter konstruieren sie eine Treppe und eine Tribüne … Sie treffen diese Vorbereitungen sicher, um während der nächsten drei Tage meinen Voraussagen lauschen zu können. Da ich aber nicht das Geringste zu sagen habe, gerate ich bei dem Gedanken daran, derart eingepfercht zu sein, in immer ärgere Not.“

Oft ist es die Angst, den Erwartungen des Gegenübers nicht entsprechen zu können, die als psychologisches Grundmotiv den Handlungsverlauf der Geschichten generiert. Der ständigen Wandelbarkeit seiner Umwelt ausgeliefert, versucht der Held stets erfolglos diese zu deuten. So wird ihm alles fremd, unheimlich, bedrohlich. Alle Reflexionen münden in immer noch größeres Unverständnis. Feind und Freund, Illusion und Wirklichkeit sind nicht mehr zu unterscheiden. Panische Flucht ist die letzte Option des vom Nichtverstehen Überforderten. Da, wo sie physisch nicht möglich ist, wie etwa als umzingeltes Fabeltier, ergibt er sich in passive Resignation. Zwischen rückwärtsgewandter Melancholie – auch unbewältigte Familienerfahrungen spuken in vielen Sequenzen unausgesprochen durch den seelischen Hintergrund – und ängstlicher Ungewissheit dem Kommenden gegenüber ist der Ich-Erzähler in seiner beklemmenden Gegenwart isoliert.

Man kann nur darüber staunen, wie Uchida es schafft, unter der Oberfläche seiner traumartigen Skizzen individualpsychologische Momente mit kritischer Zeitdiagnose zu verbinden. Denn hinter dem fatalen Fremdwerden der Außenwelt, geschildert aus der Perspektive des isolierten Individuums, lässt sich der rasante Restaurationsprozess vermuten, der Japan am Ende des 19. Jahrhunderts erfasste und der viele mit einem Mal ins moderne Chaos schleuderte. In einer mitreißenden Mischung aus archaischer Geistergeschichte und surrealistischer Traumschilderung verhandelt der Autor religiöse, ethnische, moralische, ästhetische, ideologische, technische und emotionale Entgrenzungserfahrungen als Merkmale einer Zeit zwischen den Zeiten.

Diese überraschende thematische Vielschichtigkeit entdeckt man beim Lesen nach und nach, wenn man sich vom verstörenden Gefühl des Alleingelassenseins zu Beginn nicht abschrecken lässt. Auch der abgründige Humor, mit dem sich der mürrische Held in sein ihn überforderndes Schicksal fügt und der, bei all dem Tod, der Dunkelheit, dem Morbiden und Unheimlichen, vielen der Erzählungen dennoch so etwas wie eine resignative Leichtigkeit verleiht, springt einem nicht aus jeder Zeile entgegen. Man muss sich einlassen auf das Dahinter dieser kraftvollen Bilderwelten, die Hyakken Uchida mit der lyrischen Exaktheit des Haikudichters in knappen Strichen entwirft. Dann wird „Aus dem Schattenreich“ zu einem aufregenden, „fantastischen“ Buch.

Literaturangabe:

UCHIDA, HYAKKEN: Aus dem Schattenreich. Aus dem Japanischen von Lisette Gebhardt. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009. 176 S., 17,95 €.

Weblink:

Deutsche Verlags-Anstalt


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