Unter dem Titel „Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten“ erscheint im Siedler Verlag eine Studie des Bielefelder Historikers Daniel Siemens. In drei Kapiteln widmet er sich Wessels Leben, dem nach der Ermordung des 22-jährigen betriebenen Heldenkult und den juristischen Nachwehen des Kriminalfalls Wessel.
Siemens möchte den Motiven nachspüren, die in den letzten Jahren der hoffnungsvollen Weimarer Republik aus jungen Männern gewalttätige Fanatiker werden ließen. An seinem Fallbeispiel Wessel untersucht er die spezifischen Techniken der Nazi-Propaganda und deren fatalen Einschlag in der Geisteslandschaft jener Tage. Günstigerweise konnten nun Akten eingesehen werden, die – seit 1947 vermisst – während Siemens’ Recherchen wieder aufgetaucht sind.
Der 1907 in Bielefeld geborene Pfarrerssohn wurde der NSDAP ein „Blutzeuge“. Anfang 1930 wurde er mit Schussverletzungen in ein Berliner Krankenhaus gebracht und starb am 23. Februar an einer Blutvergiftung. Am Tag seines Todes schrieb der damalige Gauleiter in Berlin und Brandenburg, Goebbels in sein Tagebuch: „Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich!“
Soviel ist sicher. Unklar bleiben hingegen die Hintergründe der Schießerei. Zu berücksichtigen sind die Liaison Wessels mit der Prostituierten Erna Jänicke, die Streitereien mit seiner Vermieterin und die Ermordung des Rotfrontkämpfers Camillo Roß durch SA-Männer zur selben Zeit. Siemens kommt zu dem Schluss, dass sich die Argumente für einen Mord im Zuhältermilieu und ein politisch motiviertes Attentat durch den Rotfrontkämpferbund überlagern. Anhaltspunkte für Schüsse aus den eigenen Reihen sieht er nicht. Es grassieren schließlich noch immer Theorien darüber, dass Wessel sich in der SA unbeliebt gemacht habe.
Zu den gleichermaßen prominenten wie bizarren Kultfiguren des Dritten Reichs gehört Horst Wessel ohne Zweifel. Dass sich beim ersten Wessel-Prozess allerlei Zuschauer des gehobenen Bürgertums im Moabiter Gericht einfanden, ist nicht überraschend. Gab es doch auch auf Seiten der bürgerlichen Presse einen Riesenrummel um dieses Ereignis. Als Anführer der Friedrichshainer SA und Verfasser des Kampflieds „Die Fahne hoch“, das bald zur Parteihymne avancierte, sollte Wessel in die erste Reihe der Nazi-Helden aufsteigen. Tatsächlich aber ebbte der Kult bald ab. Dennoch gehörte das Wessel-Lied während der Diktatur zu jeder politischen Veranstaltung der Braunhemden. Es schossen bald nach der Errichtung der Diktatur Wessel-Straßen, -Schulen und -Plätze aus dem Boden. Dem BDM war er schließlich ein Fruchtbarkeitsgott. Mit diesem über alle Maßen absurden Fakt beginnt Siemens – den Berliner Schuldirektor Gregor Ziemer zitierend – seine Studie.
Vor allem Goebbels ersponn ein zynisches Volksmärchen. Zum „Christussozialisten“ wurde Wessel stilisiert und diente Jahre vor der Machtergreifung Hitlers als Identifikationsfigur für die braune Bewegung, die Anfang der 30er Jahre zunehmende Wahlerfolge verbuchen konnte. 1932 erschien dann der „offizielle“ Wessel-Roman von Hanns-Heinz Ewers, dem vormals schwarzen Romantiker und Pornografen, der mit Texten wie „Alraune“ auf sich aufmerksam gemacht hatte. Nicht nur seine Lebensgefährtin fürchtete um den Ruf des Schriftstellers, als er sich zum nazistischen Seher-Dichter entwickeln wollte. Ja, wollte, denn nachweislich kam das Angebot für den Roman von ihm selbst.
Beklemmend liest sich seine Hagiographie, die den Zeitgenossen einen Heiligen vorführte, dessen Blutopfer zur willenlosen Gefolgschaft animieren sollte. Beklemmend ist die Schreibweise, die unbedingt gewollte große Geschichte. Von Wahrheit ist da die Rede. Deren dünner Boden jedoch musste erst aufgeschüttet werden mit Hokuspokus und auratischem Klimbim. Der Roman ist eines der Belegstücke für die Vereinnahmung des religiösen Prinzips durch die Nationalsozialisten. Die im Straßenkampf getöteten SA-Männer, aus deren Menge Wessel hervorgehoben wurde, mussten den Nazis auf Biegen und Brechen zu etwas gut sein. Ewers stilisiert also eine Pseudo-Begründung, die Wessels Mutter im Roman aus den Tiefen eines vernebelten Fatalismus erscheint: „Wie im Traum war es: nur dem Gefühl begreifbar schwebten klingende Worte vor ihren Augen, hüllten sie in in zarten Nebel, nahmen Besitz von ihrem ganzen Sein. Ja, ja, das war die Antwort: ‚Damit Deutschland lebe – darum mußten sie sterben!’“
Was nicht überzeugend dargelegt werden kann, weil es eben nicht den Tatsachen entspricht, sollte über Herz, Blut und den lieben Gott plausibel werden. Ebenso wurde die Gesetzmäßigkeit des Opfers vorgetäuscht – mündend in der blassen Botschaft: „Und immer, immer ist dies das Ende: unten am Kreuz steht eine Mutter.“ Wessels Mutter wurde selbst in den Mythos einbezogen, da sie beide Söhne „für die Sache“ verloren hatte. Hierbei galt es natürlich, zu verschweigen, dass Wessels Bruder bei einem Skiausflug ums Leben kam und der Held selbst vielleicht gar nicht aus primär politischen Gründen den Tod fand.
Der Wessel-Fall wird zum Brennpunkt für die sozial- und geistesgeschichtlichen Prozesse, die zur viel zu spät durchschauten kollektiven Eskalation beitrugen. Die polarisierte Presselandschaft, die Reibungen im bis zum Bersten gespannten sozialen Gefüge der Krisenjahre und die Unterordnung der Fakten unter strategische Diskurse – all dies weiß Siemens in einer klaren, nüchternen Sprache zu präsentieren.
Literaturangabe:
SIEMENS, DANIEL: Horst Wessel. Tod und Verklärung eines Nationalsozialisten. Siedler, München 2009. 352 S., 19,95 €.
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