Von Roland H. Wiegenstein
Netty Reiling, eine Tochter aus guten Haus, wurde 1900 in Mainz geboren, sie studierte in Heidelberg und Bonn, promovierte 1924, heiratete 1925 den ungarischen Wissenschaftler László Radványj, zog mit ihm nach Berlin. Dort wurde aus Netty Reiling Anna Seghers, der 1928 vom alleinigen Juror Hans Henny Jahnn für ihre Erzählung „Der Aufstand der Fischer von St. Barbara“ der renommierte Kleist-Preis zugesprochen wurde. Sie trat der Kommunistischen Partei und dem „Bund Proletarisch-Revolutionärer Schriftsteller“ bei, floh 1933 mit ihrer Familie nach Paris, lebte nach der Besetzung Frankreichs durch die Wehrmacht zuerst klandestin weiter in Paris, dann in Südfrankreich. 1941 gelang ihr die Flucht nach Mexiko.
1947 kehrte sie nach Berlin zurück, unternahm in den folgenden Jahren zahlreiche Reisen (vor allem nach Paris und Stockholm , zwei Orte, die sie liebte, aber auch in den Ostblock), tauschte 1950, von Ulbricht mit nicht eben sanfter Gewalt überredet, ihren mexikanischen Pass gegen den der DDR aus, zog von Westberlin nach Ostberlin um, was ihre Reisemöglichkeiten einschränkte, wurde Präsidentin des DDR-Schriftstellerverbandes, dessen Leitung sie 1978, als ihr Mann starb, abgab.
Dieser war erst 1952 zu ihr in die DDR zurückgekehrt und lehrte dort an der Universität und der Akademie der Wissenschaften. Sie wurde zu einer Vorzeige-Autorin des „sozialistischen Lagers“ mit einem eindrucksvoll großen, weit verzweigten Werk: Romane, Erzählungen, Essays, sie erhielt in der Bundesrepublik 1947 den „Büchner-Preis“, den sie nicht selbst entgegennehmen konnte, in Moskau den „Stalin-Friedenspreis“, fühlte sich zeitlebens als Kommunistin, auch wenn sie mit ihren „Brüdern in Christo“, wie sie die kommunistischen Funktionäre zuweilen ironisch nannte, immer wieder einmal in Streit geriet und ihre Korrespondenz von westlichen wie östlichen Geheimdiensten gefilzt wurde.
Sie tat sich mit der „Linientreue“ gegenüber wechselnden Direktiven der jeweiligen Parteiführungen oft schwer, aber nie mit der Treue gegenüber den Idealen ihrer jungen Jahre und den Gefährten ihrer vielen Fluchten. Die blieb unverbrüchlich. Mochte sie auch mit Georg Lucács darüber streiten, was denn nun „Realismus“ sei (der ihre war sehr viel weitherziger und phantasievoller als der des ungarischen Theoretikers), so beharrte sie doch starrköpfig auf ihrer Version. Wenn ihre Werkausgabe in Aufbau Verlag vollständig ist, wird sie 23 Bände umfassen: ein Werk von enormem Umfang, in dem sich sowohl Meisterwerke befinden („Das siebte Kreuz“, „Transit“, „Die Toten bleiben jung“, viele ihrer Erzählungen) und manches, was die Zeitläufte kaum anders denn als Zeugnis wacher Zeitgenossenschaft und eines starken pädagogischen Impetus überleben wird. Gleichwohl: sie war eine bedeutende Schriftstellerin, auch wenn sie derzeit nicht im Mittelpunkt literarischen Interesses steht.
Man greift also mit Neugier zum ersten Band ihres Briefwechsels, der von 1924 bis 1952 reicht, und etwas mehr als ein Drittel der aus dieser Periode erhaltenen Korrespondenz umfasst, ausgewählt und kommentiert von Almut Giesecke und ihrer Biografin Christiane Zehl Romero. Die reinen Privatbriefe, etwa an ihren Mann und die beiden Kinder bleiben noch lange gesperrt. Alle in fremden Sprachen (vor allem Französisch, aber auch Englisch und Spanisch) geschriebenen Briefe werden im Anhang übersetzt. Dass diese Ausgabe wissenschaftlichen Erfordernissen nicht gehorcht, liegt an der nicht zu kontrollierenden Auswahl und den oft zu dürftigen, um politische Korrektheit bemühten Kommentaren. Aber fürs erste mag es genügen.
Anna Seghers war eine eifrige Briefschreiberin, wobei es ihr meist mehr um die Mitteilung von Sachverhalten als persönliche Befindlichkeiten ging. Sie beschäftigte sich mit der eigenen wie der politischen Situation ihrer Freunde und ihrem Bemühen um die, durch die jeweiligen Zeitumstände komplizierte Veröffentlichung ihrer Bücher. Direkte interpretative Hinweise auf das eigene Werk sind selten und kursorisch, das eigene private Leben wird eher beiläufig und kaum jemals klagend beschrieben, allein in den vielen Briefen an F.C. Weiskopf, (einen engen Freund aus Prag, dem 1939 die Flucht in die USA gelungen war) zeigt sich etwas von der verzweifelten Lage, in der sie sich seit Kriegsbeginn mit einem internierten Mann und zwei Kindern befand; Briefe an Freundinnen in Stockholm und Mexiko lassen später etwas von den Zweifeln durchblicken, die sie nach ihrer Rückkehr in die DDR plagten. Doch mochte sie auch ideologische Bauchschmerzen haben, so kam doch der „Verrat“ an den Genossen und der zwar manchmal irritierte, aber nie aufgegebene Glaube auf der richtigen Seite für eine bessere Welt zu stehen, nicht infrage. Da stand sie und da blieb sie!
Das macht diesen in vielen Briefen aufschlussreichen, in anderen sogar rührenden Austausch mit den Freunden zuweilen mühsam, zumal man immer wieder aus den Anmerkungen Näheres zu verklausulierten Formulierungen schließen muss, nicht immer mit Erfolg. Was um alles in der Welt soll darin die kryptische Erklärung, dass Radvány auch deshalb so lange mit seiner Rückkehr nach Europa (bis 1952!) gezögert habe, weil er möglicherweise Aufträge vom sowjetischen Geheimdienst hatte, die ihn in Mexiko (wo er Universitätsprofessor geworden war) festhielten? Hat sie wirklich die Währungsreform kaum erwähnt und die Luftbrücke nur beiläufig? Gibt es kein Wort von ihr zu den „Säuberungen“ der späten dreißiger Jahre in der Sowjetunion (die doch in Paris heftig diskutiert wurden)? Dass sie in der DDR Privilegien genoss, viel reisen durfte, sich immer wieder zum Schreiben nach Wiepersdorf zurückziehen konnte, es kommt vor – wird in ihrer Darstellung aber zur Randnotiz.
Allenfalls dass sie (nach einem bedrohlichen Autounfall noch in Mexiko) ständig müde und erschöpft war, lässt sie ihre Briefpartner ebenso wissen, wie die unablässige Arbeit an ihren Büchern. Darin stand doch so vieles, was sie der Mit- und Nachwelt erzählen musste, als ein Zeugnis der Zeit, so getreu abzulegen wie möglich. Das war sie denen schuldig, die ermordet worden waren. In diesen Briefen finden wir eine seltsame, ja reizvolle Mischung von genauer Realitätswahrnehmung und einer fast kindlichen Naivität, die sie davor bewahrt, von dem dünnen Brett zu stürzen, das über die Abgründe ihres Lebens führte.
Ihren Humor, ihren kräftigen Witz hat sie selten verloren. Wer zwischen den Zeilen lesen kann, wird sich manches zusammenreimen können, was Seghers verschweigt. Auf jeden Fall aber wird der Leser beeindruckt sein von dem großen Netzwerk, das halten musste, wollte man gefährdete Gefährten (und auch Unbekannte, die man auf den verschlungenen Wegen des Überlebens traf) retten. Sie war Teil solcher Netzwerke und die waren ihr allemal wichtiger als all die Gerüchte und Zänkereien in der Emigration.
Das Bild, das uns aus diesen Briefen entgegentritt, ist das einer Person, die sich eigentlich lieber nur auf ihre Bücher konzentriert hätte und die sich doch keiner Hilfeleistung, wo immer sie gebraucht werden mochte, entzog. Und auch keiner Ehrung. Ihre Korrespondenz zeigt auch, wie sehr sie auf den Kontakt mit anderen Menschen, ihren Freunden vor allem, angewiesen war. In den oft sichtlich schnell hingeworfenen Briefen kümmern sie keine stilistischen Feinheiten, die behält sie dem Werk vor. Nur manchmal wird ein Abschnitt, oder nur ein Satz auch literarisch wichtig, gelingen ihr dann schöne Formulierungen. Wer sie jedoch wirklich als Autorin kennen lernen will, der muss sich im Labyrinth ihres Werkes aufhalten – und dessen Widersprüche aushalten – zwischen zeitgeschichtlichem Auftrag und phantastischer Erzählfreude. Wie groß die schließlich in ihrem späteren Leben wurden, davon wird man womöglich im zweiten Band ihrer Briefe erfahren, dessen Veröffentlichung noch aussteht.
Literaturangaben:
SEGHERS, ANNA: Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde. Briefe 1924-1952. Aufbau Verlag, Berlin 2008. 747 S., 36 €.
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