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Vom Großwerden unter tollen Frauen

Jan Faktors Schelmenroman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit...“

© Die Berliner Literaturkritik, 27.10.10

Von Thomas Borchert

Glücklich ist, wer als Junge unter lebenslustigen Tanten, Großmüttern samt schöner Mutter in einer Wohnung voller „Lustemissionen“ aufwachsen kann. Der Autor Jan Faktor schreibt rückblickend: „Egal wo ich hinging, traf ich eine Frau, die mich anlächelte und von mir begeistert war.“ Weniger ein Glückslos war sicher die Kindheit in der stalinistisch geprägten Tschechoslowakei der 50er Jahre und die Zeit in Prag nach dem Einmarsch der „sozialistischen Bruderländer“ 1968: „Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt.“

Jan Faktors autobiografischer Roman „Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag“ über seine ersten gut 25 Jahre bis vor der Übersiedlung nach Ost-Berlin 1978 stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Wäre der am 4. Oktober 2010 für den komischsten Roman vergeben worden, hätte Faktor ihn wohl sicher in der Tasche. Hier gibt es von der ersten bis zur letzten der 640 Seiten gut zu lachen, wenn Faktor mit wunderbar schrägem Blick über die Verwandtschaft in der schönen, aber überfüllten Prager Altbauwohnung fabuliert, den munteren Kinderalltag im real vor sich hindümpelnden Sozialismus schildert, seine nie endenden Entdeckungsreisen zu den Wundern der weiblichen Erotik auspinselt („Entspannt schnippelten sie in meinem Beisein an ihren Schamhaaren herum“) und den schmerzhaften Weg von der Jugend in Erwachsenen-Dasein nachzeichnet.

Große Komik ist auch Trauerarbeit. Und umgekehrt. Das durchlebt Georg, Faktors Alter Ego wie schon beim Roman-Debüt „Schornstein“, mit seiner nicht nur leicht ödipalen Beziehung zur schönen, erotisch aktiven Mutter. Sie war als Jüdin, wie die anderen Tanten und Großmütter, in Auschwitz, und ihre Dominanz in dieser sehr lebendigen Prager Wohnung wird nüchtern erklärt: „Aus den KZs kamen nach dem Krieg nicht die Herren, sondern eher die Damen zurück.“ Georgs Vater, ein versoffener Ex-Pfarrer bei der tschechischen Staatssicherheit, verschwindet schnell Richtung jüngere Zweitfrau, und so bleibt Georg nur noch ein Onkel als männliches Rollenmodell.

Zu den Glanzpunkten dieses nie langweiligen Buches gehört das Kapitel über den vielleicht etwas zu heroischen Onkel-Einsatz für eine selbst entworfene Etagen-Zentralheizung. Faktor ist technisch bewandert und verbindet das hier brillant mit seiner Liebe zu burlesker Komik. Die tobt sich auch in der Schilderung um den verbissenen Kampf eines Kurort-Pianisten um den Applaus der 15 Zuhörer im Kursaal aus. Oder dem nicht weniger trostlosen Kampf zweier ausgehungerter Reisender um die Gulaschsuppe in einem voll besetzten DDR-Restaurant der 70er Jahre.

Georgs gewaltiges Interesse an allen „weiblichen Öffnungen“, seine früh einsetzenden Sorgen um den eigenen Penis füllen enorm in diesem Buch. Nach 150 Seiten fragt man sich ein bisschen, ob es nicht noch andere Probleme im Leben gibt und bekommt auf Seite 158 die Erklärung: „Um mich herum ging es nun mal dauernd mehr oder weniger um Sex. Daran kann ich wenig ändern.“ Das Leben ändert es dann aber doch und stellt mit Adoleszenz-Wirrungen, dem brachialen Ende des Prager Frühlings '68 und der folgenden Total-Erstarrung der Gesellschaft andere Probleme in den Vordergrund. Zurückhaltend geht Faktor mit der Zeit seiner Mutter und der Tanten in Auschwitz um. Dass ihm die „Gedächtnis-Industrie“ zum Holocaust ein Gräuel ist, hat der in Berlin lebende Autor in Interviews gesagt.

Im Roman wird das Kapitel über die gemeinsame Fahrt mit der Mutter ins polnische Christianstadt zu einem weiteren komischen und zugleich erschütternden Höhepunkt. Hier hatte die Mutter als Zwangsarbeiterin für die Deutschen in einer Munitionsfabrik geschuftet. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat Faktor erzählt, dass er in Wirklichkeit nicht mit seiner Mutter, sondern einer deutschen Journalistin gefahren ist: „Anders als im Buch kam es in der Realität für mich nie infrage, eine derart schwierige Reise jemandem wie meiner Mutter zuzumuten.“ So hat er wohl auch sonst aus Fiktion und eigenem Erleben ein wunderbares Buch gemixt.

Jan Faktor: Georgs Sorgen um die Vergangenheit oder Im Reich des heiligen Hodensack-Bimbams von Prag, 640 S., 24,99 €


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