Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert waren Künstlerromane ein beliebtes Genre, von Mereschkowski bis Stefan Zweig haben sich viele Schriftsteller das Leben berühmter Künstler, Maler und Dichter vor allem, imaginiert, so wie es den Vorgaben des Geniekults entsprach: der bedeutende, oft missverstandene Einzelne gegen die ganze Welt – so etwa. Die bürgerliche Gesellschaft erhielt ihre kulturell zur Bewunderung einladenden, wenn schon persönlich oft fragwürdigen Helden, sie konnte im bequemen Lehnstuhl von denen lesen, die es weit gebracht und zum Ruhm der Menschheit beigetragen hatten.
Urvater aller dieser Biographien war natürlich Vasari, der in seinen "Viten", oft unbekümmert Legenden und eigene Anschauung vermischend, eine Art Kunstgeschichte geschrieben hatte, die er aus Verbürgtem und Gerüchten sich zusammenreimte. (Die Kunstgeschichte hat sich lange an seine Viten gehalten, sie dann als wenig zuverlässig beiseite gesetzt, um sie später wieder als eine nützliche "Quelle" unter anderen wieder auszugraben.)
Die Tendenz der Künstlerromane (ganz gleich ob sie von allgemein Anerkannten oder von Verkannten handelten, die erst eine spätere Zeit in ihrer Bedeutung zu würdigen vermochte, der jeweilige Autor vor allem) blieb meist die Vasaris: Die Helden dieser Romane waren Belegexemplare für den oft beschwerlichen, aber unaufhaltsamen Fortschritt der Menschheit.
Ein Pater, eine Hure, Peter Paul Rubens
In dem Maße, in dem sowohl die Fortschrittsidee als auch der Geniekult in Verruf gerieten, verschwand auch das Genre des Künstlerromans, mindestens aus jener Literatur, die sich nicht umstandslos in die Bereiche des Trivialen begeben wollte. Das – so scheint es – beginnt sich wieder zu ändern. Biographien werden als Gegenstand literarischer Bemühungen immer zahlreicher, und nach historischen Figuren von Belang sind auch die Künstler wieder gefragt.
Etwa Leonardo oder Van Gogh – um nur zwei Beispiele aus den letzten Jahren zu nennen. Auch der norwegische Schriftsteller Atle Naess (geboren 1949, Autor zahlreicher Romane und Kinderbücher) hat sich dem Genre zugewandt: "Caravaggios Flucht" heißt ein kleiner, 1997 in Oslo erschienener Roman, den Angelika Gundlach für den Insel Verlag übersetzt hat.
Atle Naess hat sich, darin durchaus jener "modernen" Manier verpflichtet, die Distanz fordert, für eine gebrochene Erzählweise entschieden: Ein "Herausgeber" stellt angeblich neuerdings erst entdeckte Aussagen von Zeitgenossen des Malers vor, kommentiert sie zuweilen und sät zugleich Zweifel an ihrer Echtheit. Ob der Haupterzähler, ein enger Freund des Malers aus gemeinsamen frühen Jahren mit Namen Innocenzo Promontorio, wirklich gelebt hat, da über seine Existenz keine anderen Unterlagen existieren außer diesem Bericht über Caravaggio (nicht einmal der von ihm angegebene Geburtsort ist auf irgendeiner Landkarte zu finden), und ob er wirklich erlebt hat, was er mitteilt, das bleibt ebenso zweifelhaft wie die sehr viel kürzeren Aussagen eines ehrwürdigen Paters, einer Hure, zweier anderer Maler – darunter Peter Paul Rubens – eines neapolitanischen Stadtschreibers und eines Buchhändlers.
Flucht aus Rom
Sie alle, so sagt es Atle Naess, hatten auf die eine oder andere Weise mit Caravaggio zu tun und aus ihren Erzählungen ergibt sich ein Bild vom kurzen wilden Leben des einflussreichsten Malers des Manierismus und Frühbarocks. Vor allem geht es dabei um einen Caravaggio angelasteten Totschlag, begangen an einem in Rom stadtbekannten Raufbold namens Ranuccio Tomassoni, der ihn zur Flucht aus Rom zwang, weil nicht einmal seine mächtigen Gönner aus dem Kardinalskollegium ihn weiter schützen konnten oder wollten.
War es wirklich Totschlag, gar Mord, oder nicht doch ein Duell? War Caravaggio im Recht, als er sich mit dem Schlagetot einließ? War er womöglich das Opfer einer Intrige anderer römischer Maler, die ihm Ruhm und Aufträge neideten, oder von Machtverschiebungen im Dunstkreis des Heiligen Stuhls? Atle Naess erörtert mittels seiner Zeugen alle diese Möglichkeiten und überlässt es den Lesern, ihre Schlüsse zu ziehen, sie sollen selbst zwischen den einander widersprechenden Versionen unterscheiden. Das gibt dem Buch einen kriminalistischen Zug und sorgt für einige temperierte Spannung.
Dass Atle Naess das Werk Caravaggios gut kennt, steht außer Frage: Seine Bildbeschreibungen der wichtigsten Bilder sind genau, plastisch, engagiert. Er liebt sie ganz offensichtlich. Er betont den oft kruden Naturalismus der Details (die schmutzigen Füße eines Heiligen!), er vertieft sich inständig in die raffinierten Licht- und Schattenwirkungen der einzelnen Bilder und es gelingt ihm, diese kunsthistorischen Details seinen Erzählfiguren so mundgerecht zu machen, dass man sich nie im kunsthistorischen Seminar fühlt. Man bekommt auch eine Ahnung davon, wie groß der Einfluss von Caravaggios Malweise gewesen sein muss (,der so weit reichte, dass noch heute in der Kathedrale von Avila (!) eine Kopie jenes unverschämten David mit dem kecken Federhut hängt, der den abgeschlagenen Kopf des Goliath präsentiert).
Künstlerische Ketzereien
Man erfährt also viel über die Bilder des Künstlers und über sein wüstes Leben, wobei der Trick darin besteht, dieses ausgerechnet von jenem Promontorio erzählen zu lassen, der sich längst von seiner wilden Jugend distanziert hat und ein braver Beamter am päpstlichen Hof geworden ist, der sich ums Seelenheil des einstigen Kumpans Sorgen macht und die eigenen ketzerischen Neigungen, die Beschäftigung mit den umstürzenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen der Kopernikus, Kepler und Galilei nämlich, längst aufgegeben hat.
Dabei gelingt Naess insofern eine hübsche ironische Volte, als er einen Jesuiten Promontorio auffordern lässt, seine Forschungen in Padua fortzusetzen. Naess kennt sich aus: in den politischen wie der kulturellen Strömungen der Zeit, von der sein Buch handelt. Dabei bleibt er merkwürdig vorsichtig, wenn es um die künstlerischen Ketzereien Caravaggios geht, um eine Malerei, der die frommen Inhalte nur noch Anlass zu waghalsigen Farb- und Formexperimenten sind, die im dumpfen Klima der Gegenreformation unweigerlich auf den Scheiterhaufen geführt hätten, wären nicht hochmögende Gönner für den Ungebärdigen eingetreten, ob aus ästhetischer Neugier oder aufgeklärtem Zynismus.
Das beschweigt Naess wie manches andere, was zu einer wirklichen Darlegung der revolutionären, widerspenstigen Kunst des Malers gehört hätte. Er kann das tun, weil er seinen Figuren nur eben den Bewusstseinshorizont der Zeit zugesteht und nicht klüger sein will als diese. Schließlich hat er einen Roman geschrieben und keinen Essay. So ist ein angenehm lesbares, nie dummes Buch entstanden, das man leicht in einem Nachmittag und Abend zu Ende bringt. Man ist während der Lektüre gut unterhalten, hat einiges Neue über Caravaggio erfahren, das man nicht nachprüfen kann, und man wird gleichwohl, wann immer man auf ein Bild des Malers stößt, aufmerksamer hinschauen als vorher. (Wo sich die einzelnen Bilder befinden, das hat Naess am Ende des Buchs aufgelistet.) Und das ist doch etwas.
Literaturangaben:
NAESS, ATLE: Caravaggios Flucht. Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Angelika Gundlach. Insel Verlag, Frankfurt/Main 2003. 157 S., €18,90.