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Vom vergessenen Krieg

„Durst“ als Schlüsseltext der russischen Gegenwartsliteratur.

© Die Berliner Literaturkritik, 02.03.11

BERLIN (BLK) – Der Suhrkamp Verlag hat in seiner Reihe edition suhrkamp den Roman „Durst“ von Andrej Gelassimow herausgebracht. Das im Februar 2011 erschienene Werk wurde von Dorothea Trottenberg aus dem Russischen übersetzt.

Klappentext: Kostja kommt entstellt aus Tschetschenien zurück, bei einem Raketenangriff wurde sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. In Moskau vergräbt er sich, säuft Wodka und zeichnet. Nur seine Nachbarin holt ihn gelegentlich aus seinem Kokon: Er soll ihrem Sohn Angst einjagen, wenn der mal wieder nicht ins Bett will. Eines Tages tauchen zwei ehemalige Kameraden bei ihm auf, sie suchen Sergej, der sie aus dem brennenden Panzer gezogen hat. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Odyssee durch ein Land, dessen Menschen vom vergessenen Krieg im Kaukasus traumatisiert sind. Der lakonisch erzählte, stilistisch an Autoren wie Raymond Carver geschulte Kurzroman gilt als Schlüsseltext der russischen Gegenwartsliteratur.

Andrej Gelassimow kam 1965 in Irkutsk zur Welt. Nach der Schulzeit studierte er Fremdsprachen an der Universität in Jakutsk und besuchte die Fakultät für Regie am Staatlichen Institut der Theaterkunst. Er wurde Kandidat der philologischen Wissenschaften und unterrichtete Geschichte der englischen und amerikanischen Literatur an einer Universität. Andrej Gelassimow ist Prosaiker und zählt neben Viktor Pelewin zu den wichtigsten russischen Erzählern seiner Generation.

Leseprobe:

©SuhrkampVerlag©

 

Es passte einfach nicht der ganze Wodka in den Kühlschrank. Zuerst habe ich versucht, ihn zu stellen, dann legte ich eine Flasche auf die andere. Sie lagen da drin wie durchsichtige Fische. Die Flaschen hatten sich verkrochen und klirrten nicht mehr. Aber es waren immer noch welche übrig, ungefähr zehn. Ich hätte meiner Mutter längst sagen müssen, dass sie diesen Kühlschrank mitnehmen soll. Eine Zumutung für mich und für den kleinen Jungen nebenan. Jedes Mal weint er hinter der Wand, wenn das Biest mitten in der Nacht losrumpelt. Und nie passt mein ganzer Wodka rein. Zu klein, verdammt.

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Scheißteil.

Deshalb musste ich sie auf den Schrank stellen. Und aufs Fensterbrett. Und auf den Boden. Alles wie üblich. Eine habe ich ins Bad gelegt – in den Korb mit der schmutzigen Wäsche. Ich dachte, lass sie da liegen. Für alle Fälle.

Als ich das mit dem Wodka mehr oder weniger geregelt hatte, begann es an der Tür zu klingeln. Zuerst wollte ich nicht aufmachen, weil es schon spät war, aber dann machte ich doch auf. Es konnte sowieso nur Olga sein. Selbst meine Mutter war schon seit einem halben Jahr nicht mehr da gewesen. Wir kommunizierten per Telefon.

– Entschuldige, dass ich dich schon wieder störe, sagte sie.

– Nikita macht wieder Theater. Hilf mir noch mal. Alleine werde ich mit ihm nicht fertig.

– Das sind Probleme! sagte ich.

Ich warf eine Jacke über und folgte ihr. Ich ließ sogar die Tür offen.

– Na, na, wer will denn da nicht schlafen?

Der Junge zuckte zusammen und starrte mich an wie ein Gespenst. Sogar seine Bauklötze ließ er fallen.

– Wer hört denn da nicht auf die Mama?

Er sieht mich an und schweigt. Nur seine Augen sind groß wie Untertassen.

– Komm, mach dich fertig, sagte ich. – Wenn du der Mama nicht gehorchen willst, wohnst du eben bei mir. Du kannst aber nur ein Spielzeug mitnehmen.

Er schweigt, und sein Mund öffnet sich sperrangelweit.

– Was nehmen wir mit? Das Auto oder den hier? Wer ist denn der Kerl hier mit der Unterhose? Etwa Superman? Komm, nimm Superman mit.

Er guckt rüber zu Olga und flüstert:

– Ich will schlafen. Mama, ich geh jetzt ganz von alleine schlafen.

Ich sage:

– Braver Junge. Du hast schnell kapiert. Wenn das noch mal passiert, komme ich wieder, dann nehme ich dich wirklich mit.

An der Tür hielt Olga mich auf:

– Willst du einen Tee? Gehen wir in die Küche, ich hab gerade welchen aufgegossen.

Ich sage:

– Meine Tür steht noch offen. Man kann nie wissen …

Da sagt sie:

– Entschuldige, dass ich dich immer damit belästige. Es ist einfach … er hat nur vor dir Angst … Auf mich hört er überhaupt nicht mehr.

Ich muss grinsen:

– Verstehe. An seiner Stelle hätte ich mich noch viel mehr erschrocken Wie alt ist er?

– Fünf. Vier Jahre und zehn Monate.

Ich sage:

– Ich hätte mich noch viel mehr erschrocken.

Darauf sagt sie wieder:

– Entschuldige … Nimm es mir nicht übel, bitte.

Nach einer Weile sage ich:

– Schon in Ordnung. Wenn was ist, komm vorbei. Ich bin jetzt sowieso zu Hause. Die Arbeit ist fertig. Mein Geld habe ich bekommen.

Sie sieht mich an und sagt:

– Trinkst du jetzt wieder drei Monate lang Wodka?

Ich sage:

– Wie kommst du denn darauf? Ich sitze einfach zu Hause vor dem Fernseher.

Sie sieht mich an und lächelt. Nicht besonders fröhlich allerdings.

– Na gut, entschuldige nochmals. Komm du auch vorbei, wenn was ist. Willst du wirklich keinen Tee?

Zu Hause ging ich zum Spiegel und blieb lange davor stehen. Ich sah mir an, was aus mir geworden war.

Wenn doch Serjoga sich damals nicht geirrt hätte und mich nicht im Panzer hätte brennen lassen bis zum Schluss. Aber er dachte, ich sei schon perdu. Deshalb hat er zuerst die anderen rausgeholt. Die, die sich noch rührten.

So dass ich heute nur noch Kinder erschrecken kann. Olga hat Glück gehabt mit ihrem Nachbarn.

©Suhrkamp Verlag©

 

Literaturangabe:

GELASSIMOW, ANDREJ: Durst. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 115 S., 12 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


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