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Von Büchern und Orten

Martin Mosebach hat einen neuen Essayband herausgegeben

© Die Berliner Literaturkritik, 25.10.11

MÜNCHEN (BLK) – Im September 2011 ist im Hanser Verlag „Als das Reisen noch geholfen hat“ von Martin Mosebach erschienen. Der Essayband trägt den Untertitel „Von Büchern und Orten“.

Klappentext: Soll man lieber verreisen oder lesen? Martin Mosebach versteht von beidem etwas, und so schaffen seine Erkundungen die überraschendsten Konstellationen. Die Beschäftigung mit Orient und Okzident führt ihn nach Kairo und in das Kloster Shio Mghvime, lässt ihn aber auch Heimito von Doderers Kunst des Bogenschießens entdecken. Die große Geschichte in den kleinen Geschichten entdeckt er beim Romanlesen ebenso wie auf der Reise nach Havanna, Korea oder Sarajevo. Martin Mosebachs Kunst als Romancier und Essayist wurde oft gerühmt, schafft er es doch, das Vertrauteste so darzustellen, als habe man es noch nie gesehen. Dieses große Buch ist die Summe seines Reisens und Lebens.

Martin Mosebach wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren. Nach dem Abitur studierte er dort und in Bonn Jura . 1979 schloss er das Studium mit dem II. Staatsexamen ab. Seit 1980 lebt Mosebach als Schriftsteller und Lyriker in Frankfurt am Main. Er schreibt für mehrere Zeitungen, Zeitschriften und dem Rundfunk Aufsätze über Kunst und Literatur. Außerdem veröffentlicht er Hörspiele, Dramen, Libretti (u.a. für die Salzburger Festspiele, die Oper Frankfurt, die Pariser Oper  und das Freiburger Barockorchester) sowie Filmdrehbücher ( u.a. Buster’s  Bedroom und Roussel, beide mit Rebecca Horn).

Leseprobe:

©Hanser Verlag©

Sarajevo im November 1994

Spuren im Pflaster

Das Pflaster von Sarajevo ist von Granateinschlägen gesprenkelt. Wo eine Granate gefallen ist, ist der Stein wie unter den Stößen eines Preßlufthammers geborsten. In der Mitte ist immer ein tieferes Loch, um das sich in konzentrischen Ringen kleinere Löcher legen, die von den Granatsplittern herrühren. Wer in der Nähe des tieferen Lochs gestanden hat, ist im ganzen zerfetzt worden; weiter entfernt bei den kleineren Löchern sind manchmal nur ein Bein, ein Arm oder die Augen verlorengegangen. Viele Menschen strömen im Hellen und im Dunkeln über das gesprungene Pflaster. Das ist in der Zeit, als manchmal täglich zwanzigtausend Granaten fielen, nicht anders gewesen. Die jungen Leute vor allem haben sich auch in den schlimmsten Tagen geweigert, lange im Keller zu sitzen. An jeder Straßenkreuzung, wo sich der Blick auf die schönen Berge öffnet, haben sie sich den Kugeln der Heckenschützen ausgesetzt. Aber auch jetzt noch fallen jeden Tag ein paar Granaten auf die Stadt. Keiner kann wissen, ob er gesund nach Hause kommt.

  Die meisten Menschen drängen sich auf dem Marktplatz. An offenen Ständen werden hier die kostbarsten Waren angeboten: frisches Gemüse, das zum Teil aus den vielen neuen Gärtchen stammt, die seit Beginn des Kriegs überall in der Stadt angelegt worden sind. Ein Kohlkopf, ein paar Kartoffeln, ein paar Zwiebeln, ein kleiner Haufen Äpfel. Aber trotz der vielen Neugierigen, die sich zwischen den Ständen bewegen, bleiben die Waren lange unberührt. Sie sind nur für deutsches Geld zu haben. Zehn Mark für ein Pfund Äpfel sind zuviel für eine Familie, die mit hundertfünfzig Mark im Monat auskommen muß.

  Am Rand des Markts hat sich in einem großen Loch allerhand Kehricht angesammelt: eine Orangenschale und schmutziges Papier. Hier ist die Granate explodiert, die achtundsechzig Menschen getötet und viele schwer verwundet hat. Eine junge Frau erzählt von dem Augenblick, in dem sie unversehens mit beiden Schuhen tief in menschlichem Blut stand. Mit der ohnmächtigen Empörung, der man immer begegnet, sobald die Sprache auf die englischen und französischen UN-Truppen kommt, erinnert sie an den Versuch des englischen Generals Sir Michael Rose, die Verteidiger von Sarajevo für die schreckliche Granate verantwortlich zu machen. „Das ist, als ob ein Mann, der eine Hand verloren hat, sich auch die zweite abhacken ließe, um Mitleid zu erregen!“ Von den zwei Millionen Granaten, die auf Sarajevo gefallen sind, wird die Granate von Markale, so heißt der Marktplatz, so tief im Gedächtnis der Stadt bleiben, wie sie sich in den Stein eingegraben hat. Und was das westliche Europa tat und sagte, als sie fiel, wird gleichfalls nicht vergessen werden.

  Am Flußufer in der Nähe der Lateinischen Brücke, die früher das türkische und das kroatische Viertel verband, findet man eine Unebenheit im Pflaster, die keine Granate zur Ursache hat. Hier lag eine Marmorplatte mit feierlicher Inschrift. Sie bezeichnete die Stelle, von der aus der Student Princip den Thronfolger Österreichs und die Herzogin von Hohenberg erschossen hat. Sie ist in den ersten Kriegstagen herausgerissen worden. Das Museum, in dem das Andenken des jungen Mörders gefeiert wurde, ist verwüstet. Der heroischen Monumentalbüste, die das unfertige Gesicht Princips im Art-déco-Stil idealisiert hat, ist mit einem Hammer die Nase abgeschlagen worden.

  „Ich habe das bosnische Volk geliebt!“ steht auf Serbisch und in kyrillischen Buchstaben an der Wand, aber die bosnischen Kroaten und Muslime wollen diese Beteuerung nicht mehr hören. Die Schüsse Princips waren nicht der erste Ausdruck serbischen Machtstrebens, aber man empfindet die juvenile Grausamkeit, mit der der aufgehetzte Student auch die Frau des Erzherzogs nicht schonte, als besonders drastische Ankündigung des heute alltäglichen Schreckens.

Der alte und der junge Muslim

Vater und Sohn erzählen vom Krieg. Der Vater ist schon zu alt für die Front. Er ist Modelleur für Damenschuhe und geht täglich in die Fabrik, obwohl in Sarajevo zur Zeit keine Damenschuhe hergestellt werden. Ein altmodisches Balkangesicht: Die Glatze ist von jener langen Locke bedeckt, die man früher „Sardelle“ nannte, die Augen blicken schlau und ein wenig beflissen, die gebogene Nase senkt sich über einen lächelnden Mund. Der Sohn sieht aus wie ein junger Amerikaner: sportlich, fleischig, idealistisch. „Mein Sohn“, sagt der Schuhmodelleur, als müsse er sich immer von neuem davon überzeugen, „der erste bosnische Soldat.“

  „Ich bin nicht der erste bosnische Soldat, ich bin der erste Soldat, der eine bosnische Uniform getragen hat“, sagt der Junge streng. „Wir hatten ja lange überhaupt keine Uniformen.“ – „Keine Uniformen! Stellen Sie sich das vor!“ sagt der Vater bekümmert. „Wir wurden im Keller der Kaserne ausgebildet, weil auf dem Hof dauernd Granaten explodierten. „ – „Ausgebildet!“ ruft der Vater, „aber ihr hattet doch gar keine Waffen!“ – „Wir hatten keine Waffen, aber wir hatten Spaten. Mit Spaten kann man sehr gut kämpfen. An ein paar Männern mit Spaten kommt kein Panzer vorbei. Fünfzig Metern vor den serbischen Panzern haben wir Löcher gegraben. Viele Panzer sind in diese Löcher gefallen. Ich hatte manchmal zwanzig Blasen an den Händen.“ – „Zwanzig“, sagt der Vater. – „Und nachts haben wir unsere Freunde begraben. Tagsüber waren auch die Friedhöfe unter Beschuß. Aber als ich meinen besten Freund begraben habe, fingen sie auch nachts zu schießen an. Ich habe einfach weitergegraben. Das habe ich erlebt.“ – „Es ist alles wahr“, sagt der Vater. – „Am Anfang, 1992, hatten wir nur Molotow- Cocktails. Man mußte die Panzer zwanzig Meter herankommen lassen und dann werfen. Die Serben sind zu feige, um auszusteigen und uns totzumachen.“ – „Zwanzig Meter“, sagt der Vater.

  „Und doch gibt es etwas, das ich nicht verstehe“, sagt der Sohn. „Bei uns hier ist vieles auch nicht in Ordnung.“ Er ist zornig, aber auch traurig. „Die Polizei hier benimmt sich nicht gut. Wenn ein Polizist einen Soldaten sieht, dann weiß er sofort: Aha, das ist einer, der keinen bei der Regierung kennt – deshalb muß er an die Front und darf kein Polizist werden. Und dann behandeln sie uns schlecht. Und so etwas“, das sagt er nun sehr leidenschaftlich, „muß aufhören. Wir müssen einen anständigen Staat aufbauen, eine anständige Gesellschaft!“

  Der Vater nickt eifrig, aber er muß den Worten seines Sohnes noch etwas hinzufügen, etwas Wichtiges, das nicht vergessen werden darf. „Sie müssen wissen, er ist unser einziger Sohn! Er darf lesen, soviel er will! Er weiß schon so viel für sein Alter. Meine Frau und ich – wir leben nur für ihn!“

  „Das tun alle Eltern“, sagt der Sohn. „Ja, natürlich“, sagt der Vater, „das tun alle Eltern.“

Klaustrophobie

Die Form Sarajevos gleicht einem großen Fisch. Ein enges langes Bergtal bestimmt die Grenzen der Stadt. Eine lange Straße zieht sich wie eine große Gräte vom Anfang bis zum Ende. Das ist die Cemaluša, die den Namen des türkischen Paschas Kemal trägt und in diesem Jahrhundert schon nach Kaiser Franz Joseph, König Alexander von Serbien, dem faschistischen Staatschef Ante Pavelicˇ und nach Marschall Tito benannt worden ist, bevor sie ihren historischen Namen zurückerhielt. Auf dieser Straße gelangt man vom großen Basar der Türkenstadt über die gründerzeitliche Österreicherstadt in die Neustadt mit ihren ausgebrannten und zerschossenen Hochhäusern. Ein Boulevard durch die Geschichte der Stadt, vom einen zum andern Ende in einer guten halben Stunde abzuschreiten. Das ist der Auslauf der Bürger von Sarajevo. Diese Strecke gehen sie seit dem 6. April 1992 täglich auf und ab, im Kugelhagel, in spannungsvoller Ruhe, im Dunkeln. In den heißen Sommernächten verließ man nur ungern die Straße, wenn die Ausgangssperre näherkam, aber auch die winterliche Kälte läßt sich im Gehen leichter ertragen als in einer ungeheizten Wohnung. Die Querstraßen eröffnen wie für Käfigtiere die Blicke in die freie Natur. Das Bergland mit Landhäusern und Almen begrenzt an vielen Stellen den Horizont. Dort sitzen die Tschetniks mit ihren Präzisionswaffen. Wer an einer Kreuzung stehenbleibt, muß wissen, daß er vielleicht gerade in das Blickfeld eines Zielfernrohrs geraten ist.

  Man muß nur ein paar Abende die Cemaluša in der hereinbrechenden Dämmerung auf und ab gegangen sein, um das Gefühl der Platzangst, des Gefangenseins kennengelernt zu haben. Zuerst fällt das Verhalten der Hunde auf. Immer wieder rasen Hunde durch die Straße, um ebenso unvermittelt stehenzubleiben und verwirrt um sich zu sehen. Ein Schäferhund dreht sich mit wachsender Wut um sich selbst und versucht, seinen Schweif zu fangen. Die Hunde sind feindselig und eingeschüchtert zugleich. Man sagt, sie seien während der unablässigen Beschießungen verrückt geworden. Vielleicht ist es aber auch nur der Hunger, der sie um den Verstand bringt. Abseits von der Hauptstraße stößt man auf riesige Müllhaufen, die nicht abgefahren werden können. Da stöbern die Hunde und manche alten Leute nach Eßbarem. Andere haben den Hunger vergessen. Sie gehen gestikulierend und in ein ausdrucksvolles Selbstgespräch versunken durch die Straßen. Eine Frau hält den orthodoxen Popen während der Messe am Meßgewand fest und beginnt, auf ihn einzureden, bis sie aus der Kirche gedrängt wird. Von manchen Leuten wissen die Passanten, an welchem Tag sie verrückt geworden sind. Das psychiatrische Krankenhaus sei überfüllt. Aber auch starke und gesunde Leute gestehen in der Unterhaltung, daß sie die Versuchung kennengelernt haben, die Selbstbeherrschung zu vergessen und den täglichen Kampf um Disziplin und Haltung aufzugeben.

 ©Hanser Verlag©

Literaturangabe:

MOSEBACH, MARTIN: Als das Reisen noch geholfen hat. Von Büchern und Orten. Hanser Verlag, München 2011. 496 S., 21,90 €.

Weblink:

Hanser

 


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