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Das Prinzip Voyeurismus

Der Bildband „Erotische Skizzen. Meisterwerke des 20. Jahrhunderts“

© Die Berliner Literaturkritik, 11.12.09

Von Marco Gerhards

Was die meisten von uns – in den meisten Fällen: Männer – schon lange wissen, heimlich nutzen, und trotz anscheinender Verschwiegenheit nicht in grundsätzliche Abrede stellen, ist die Tatsache, dass sich das Internet, Hort der modernen Massenkommunikation und scheinbarer Persönlichkeitsentfaltung, zu gut zwei Dritteln mit dem Inhalt pornographischer Bilder und Inhalte füllt. Keine Google-Suche nach Sex ohne Erfolg; das Prinzip des Voyeurismus hat ausgedient, die animalischen Kräfte haben sich, auf ihre ganz spezielle Art und Weise, ihr Quantum Aufmerksamkeit zurückgeholt. Zu lange lag es wohl in diesem Sinne brach, und noch schlimmer: wurde verfolgt. Die sexuellen Moralvorstellungen christlicher Kanonisten seit gut 2000 Jahren und ihrer praktischen Umsetzung in Form von Ge- und Verboten sind in ihrer widernatürlichen Perversion einzigartig in der Geschichte des Menschen – von daher sollte man alles, was danach kommt, zumindest besser nachvollziehen können.

Berühmte und gewichtige Vorreiter in Sachen öffentlicher Kopulation waren freischaffende Künstler. Zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, während des so genannten „fin de siècle“, war dies einer von vielen Bereichen inmitten der pulsierenden und räuberischen Moderne, der sich einer offensichtlichen Wandlung unterziehen durfte. Das Obszöne, dass die Lust am Direkten damals noch auf geradezu jungfräuliche Art und Weise verbarg, war für die meisten Zeitgenossen ein unheilvoller Schock, dem zumindest im 21. Jahrhundert durch diesen schönen, den ästhetischen und animalischen Motiven der Erschaffer Rechnung tragenden Bildband Gerechtigkeit widerfährt.

Die Pariser und Wiener Kunstszenen, in denen sich laut Norbert Wolf, der uns mit einer sanften Einleitung in die schlüpfrige und feuchte Welt zärtlich einführt, die wichtigsten malerischen Vertreter der erotischen Spielereien tummelten, präsentieren sich hier von ihrer reellsten Seite. Masturbierende Frauen, Aktbeobachtungen aus Positionen, die ohne tiefere Einblicke viel zu erzählen und zu bewegen haben, Anmut und Raublust: der menschlichen Sexualsphäre wird Platz und Raum gelassen.

Mit Degas, Rodin, Klimt, Schiele, Matisse oder Picasso sind hier wirklich nur die größten und wichtigsten Vertreter jener Zeit illustriert, die aber gerade durch ihr Auftreten und die Einladung in diesen illustren Kreis zeigen, wie elementar die Thematik Sexualität in ihrem Schaffen offensichtlich wurde. Es ist müßig darüber zu philosophieren, dass wahrscheinlich jeder künstlerische Akt in einem viel größeren, als auf den ersten Blick offensichtlich werdenden Maße aus und für die Sexualität geboren wurde. Ja, das macht Sinn und ist anthropologisch nur schwerlich von der Hand zu weisen.

Besonders jene spannenden Phase in der Kunstgeschichte der Moderne öffnet im wahrsten Sinn den Spalt der Welten ins alles Durchdringende. Picassos oder Dalis Skizzen und Zeichnungen sind die logischen Vorreiter unserer Zeit. Dass sich zu 99 Prozent Frauen für männliche Maler in Pose werfen und der Mann durch das Weibe angeregt wird – ist das nicht damals ganz schön patristisch gewesen und Urdilemma unserer pornographischen, patriarchalischen Welt? Wahrscheinlich schon, aber das ändert nichts an der über diesen einnehmenden Akt weit hinausgehenden Kraft dieser dargestellten Skizzen und Bilder. Die schamlose Erhabenheit, wie Wolf betont, wird hier selbst in der Ekstase bewahrt. Immerzu und immer wieder – animalische Berechtigung.

Literaturangabe:

Erotische Skizzen. Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Jubiläumsausgabe. Prestel Verlag, München 2009. 304 S., 80 farbige Abb., 150 s/w Abb. 24,95 €.

Website:

Prestel Verlag

 


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