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Von grenzenloser Entgrenzung

Wie Restriktionen und Rahmen Welt und Gesellschaft aufrecht erhalten

© Die Berliner Literaturkritik, 06.07.11

FUNK, RAINER: „Der entgrenzte Mensch – Warum ein Leben ohne Grenzen nicht frei, sondern abhängig macht“. Gütersloher Verlagshaus, München 2011. 240 S., 19,99 €.

Von Jürgen Meier

Wer entgrenzen will, der respektiert keine Grenzen, seien sie natürlicher oder ethischer Art. Der will Grenzen nicht übertreten, um neue Grenzen setzen zu können, sondern der plädiert grundsätzlich für ein grenzenloses, ein von Grenzen befreites Leben. Wohin diese Grenzenlosigkeit führt, erlebt die Menschheit nach dem Reaktorunfall in Fukushima. Hier zeigte die Wirklichkeit der Naturprozesse dem Menschen deutlich die Grenzen seines Fortschrittswahns auf, die der entgrenzte Mensch im Produktions- und Konsumtionsprozess des Spätkapitalismus nicht wahrnehmen will. „Die Herstellung entgrenzender und entgrenzter Wirklichkeit durch eine entgrenzte Ökonomie stellt zweifellos eine der wichtigsten Wurzeln für das heute allgegenwärtige Entgrenzungsdenken dar.“ Rainer Funk zeigt, wie tragisch die Konsequenzen dieser wachsenden Gier nach Profit und Macht das Ich des Menschen verändert hat. Die entgrenzte Ökonomie führte zu „zeitlicher und räumlicher Entgrenzung“. Sie fordert von jedem Einzelnen „Flexibilität“, was nichts anderes bedeutet, als die Aufgabe dessen, was wir das eigene Selbst nennen. Das Ich soll sich flexibel den Gepflogenheiten des Weltmarktes anpassen.

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Es soll sich als Subjekt gänzlich entgrenzen und sich in ein perfektes Waren-Objekt verwandeln, für das die Entgrenzung von Privatleben und Arbeitsplatz Normalität ist. Die Entgrenzung prägt besonders die wachsende Zahl der Menschen, die nicht mit direktem körperlichem Einsatz in Fabriken, Krankenhäusern oder der Müllabfuhr tätig sind und als geistige „Elite“ die gesellschaftliche Charakterorientierung prägen. Auch wenn Rainer Funk diese Differenzierung nicht vornimmt, ist seine Analyse des entgrenzten Menschen besonders für Eltern, Erzieher und Lehrer eine wichtige Grundlage, um junge Menschen durch Mobilisierung ihrer Eigenkräfte zu starken Ichs erziehen zu können. „Die raumzeitliche Entgrenzung von Informationen Dank digitaler Technik führt“ zu Zeitnot und erhöhtem Zeitdruck, statt zu Geduld, die jeder Mensch lernen muss, um sein Ich zu stärken. Geduld,  dies kann unschwer an jeder Straßenecke beobachtet werden, wo junge Menschen fixiert auf das Display ihres Handys starren, statt die konkrete Wirklichkeit ihrer Mitmenschen wahrzunehmen, wird aber nicht mehr gelernt. Alles muss schnell geschehen. Ohne Grenzen. Die Informationsflut des Internet ist so gewaltig, dass Schüler ihre Referate „googlen“, statt sie mit Neugier und echtem Wissenshunger zu erarbeiten. Die Entgrenzung führt dazu, dass das Ich „kontaktet“ – statt wirkliche Beziehungen zu anderen Menschen aufnehmen zu müssen.

Selbstverwirklichung ist beim entgrenzten Menschen nicht die Verwirklichung seines Selbst, was ja mit Selbstkritik verbunden wäre, um die Schwächen und Stärken des Ichs erkennen zu können. Kritik hasst der entgrenzte Mensch, egal in welcher Form. Er will sich neu schöpfen. Sich neu erfinden. Er will, so wie es der Säugling erfährt, unverbindlich, bedingungslos lieben und geliebt werden. Laut „Facebook“ hat er hunderte von „Freunden“. In Wirklichkeit fehlt ihm oft ein Freund. Echte Beziehungen brauchen nämlich emotionales Verbundensein, wozu Hass, Eifersucht, Trauer, Leidenschaft, eben echte Sinnlichkeit, vermittelt durch unsere Sinnesorgane, gehört. Das entgrenzte Ich will aber diese echten Gefühle gar nicht, sondern es verdrängt seine Fähigkeiten sinnlich wahrnehmendes Subjekt zu sein. Es inszeniert sich sein Selbst, seine Wirklichkeit und will immer und allerorten „positiv“ denken.

Rainer Funk zeigt, wie gefährlich Kommunikationsschulungen, die heutzutage zum Standard der betrieblichen „Weiterbildung“ gehören, für das Ich tatsächlich sind. Sie tragen nämlich zur Entgrenzung des Ich mittels manipulativer Tricks bei. Der so geschulte Mensch will nicht mehr die tatsächliche Wirklichkeit seines Mitmenschen begreifen lernen, sondern er lernt die Signale des anderen für eigene Zwecke zu deuten und auszunutzen. Was vielleicht zu einem Verkaufserfolg führen kann, endet aber letztlich bei dem Geschulten selbst in der Entgrenzung seines eigenen Selbst. Er lernt, nur um einen beruflichen Erfolg zu kassieren, seine eigenen Gefühle zu entgrenzen, in dem er sich eine Wirklichkeit konstruiert, die allein dem Fetisch des Warenumsatzes dient. Seine tatsächliche Wirklichkeit ist daher eine entfremdete, da sie lediglich in Umsatzzahlen, Kontakten, Anrufen, E-Mails, Zeugnisnoten etc. quantifiziert denkt.

Die elektronischen Medien ermöglichen eine bisher ungeahnte Entgrenzung der Realität, da sie für jeden Einzelnen unterschiedlichste Wirklichkeit als Realität“ ausgibt. Die Simulation und die virtuellen Welten, wie sie in Gewaltspielen dargestellt werden, erschweren die Realitätsprüfung des Ich. Scheinbar ist die virtuelle Welt auch eine Wirklichkeit, in der das Ich endlich als schwaches Ich stark und bestimmend sein darf. Tatsächlich ist sie aber eine metaphysische und keine physisch konkrete Wirklichkeit. Das Ich, von der entgrenzten Ökonomie gefordert, anpassungsfähig zu sein, wird so immer unfähiger, die Realitätskontrolle der eigenen konkreten Wirklichkeit durchführen zu können. Die virtuell simulierte Welt wird nicht einfach als „Spielchen“ erlebt, sondern sie führt zu „neuronalen Veränderungen“ im Gehirn. Das verhindert, dass das Ich die Fähigkeiten zur Realitätsprüfung des eigenen Selbst sowie der Umwelt durch Eigenkräfte und tatsächliche Authentizität entwickeln kann.

Funks Buch ist ein Plädoyer für den „realen Menschen“, der mittels konkreter Realitätsprüfung „Grenzen und Begrenztheiten“ seines Selbst anerkennen muss. Ambivalenzfähig ist dieser „reale Mensch“. Er ist keiner dieser „Positivdenker“. Er ist auch nicht am Markt oder den Zeugnisnoten orientiert, sondern denkt und handelt dialektisch. Er erkennt die Widersprüche in jedem Ding, in sich selbst und den Lebens- und Naturprozessen.

Weblink Güterloher Verlagshaus

 


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