DERGATCHEV, DMITRI: Papirossy. Aus dem Russischen von Regine Kühn. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011. 127 S., 12,90 €.
Von Jennifer Riehn
Ein Vater stirbt. Und ab sofort wandelt sein Sohn auf dessen Spuren in einer ihm völlig unbekannten Welt. Im Debüt-Roman „Papirossy“ von Dmitri Dergatchev zieht der Protagonist nach dem Tod seines Vaters in dessen Wohnung in einen Arbeitervorort. Nach und nach erkundet er zögerlich die ihm völlig fremde Umgebung, um vielleicht doch noch etwas aus dem Leben des unbekannten Vaters nachvollziehen zu können. Doch während der gesamten Erzählung oder treffender: Beschreibung, bleiben das Bild der Stadt und des industriellen Landes mit seinen Straßenbahnen und Bewohnern und vor allem das Bild des Vaters undeutlich und sind einfach nicht so recht zu fassen. Die Objekte wirken verschwommen, nicht zuletzt durch Motive von Rauch und Nebel, zersprungenen Fensterscheiben oder die Brille des Vaters, durch die der Protagonist versucht seine Umgebung anzuschauen und seinen Blick mit den „trüben Äuglein auf die Dinge“ eines Vogels vergleicht.
Das einzige, was dem Protagonisten wirklich von seinem Vater geblieben ist, sind ein Mantel, Papirossy in der Tasche und diverse Zeitschriften und Reiseberichte, mithilfe derer sich der Ich-Erzähler ein Bild von seinem Vater zusammensetzt. Mantel und Papirossy dienen gleichzeitig als Motive, um Teil des unbekannten Raums zu werden und es scheint teilweise sogar so, als finde das erzählende Ich einen Zugang zu der ihm anfangs völlig unbekannten Umgebung, wenn es zu seltenen Gesprächen mit den Bewohnern des Viertels kommt. Dann irgendwann erfolgt ein Schnitt und der Autor lässt seinen Protagonisten verschwinden – wohin, bleibt unklar: „Plötzlich fühlte ich, mir war alles gleichgültig geworden (...). Nichts interessierte mich mehr, nichts schreckte mich mehr. (...) Auf der Brücke stehend, atmete ich die Kohlenluft ein und betrachtete die Lokomotiven. (...) Ich schaute noch zu, wie es schneit. (...) Dann spuckte ich aus, warf die Kippe weg und verließ die Brücke.“
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Die Erzählweise, ja der gesamte Text Dmitri Dergatchevs wirkt bruchstückhaft und uneben – ebenso zerschnitten wie die ganze Stadt, die durch die Trambahnschienen buchstäblich zerstückelt wird. Die Textoberfläche, das geschrieben Wort, wird einem schriftstellerischen Kunstgriff gleich, den im Text beschriebenen Unebenheiten gleich gemacht.
Im angehängten Gespräch „Vom Rauch“ zwischen Dmitri Dergatchev und Wladimir Velminski wird klar, warum dieser Eindruck entsteht. Als der Autor den Text auf Russisch geschrieben hat, war ihm wichtiger, wie er geschrieben wird und nicht, wovon er handelt. Dem Autor ging es „um den Stil, die Wörter, um Wortkombinationen“. Papirossy sei „kein richtiger Roman“ stellt Dergatchev fest, „eher ein Gedicht, ein großes Haiku“. Man mag meinen, der Geschichte fehle es an etwas, es bleibt bei reinen Beschreibungen ohne Schlussfolgerungen – doch möglicherweise reicht schon ein einfacher Perspektivwechsel aus: in Richtung eines großen Haiku, einer poetischen Wahrnehmung.