Von Anja Kümmel
Ben und Lea: Diese beiden Namen schmücken den Buchumschlag, bilden so das Alpha und Omega der Geschichte. Wer jetzt einen Liebesroman mit diesen beiden Protagonisten in den Hauptrollen erwartet, liegt sowohl richtig als auch falsch. Eigentlich kennen sich die beiden jungen Menschen, die sich hinter den Namen verbergen, kaum. Am Anfang fährt Lea mit dem Fahrrad an einem seltsamen jungen Mann vorbei, der auf einer Straßeninsel mitten im Verkehr liegt und eine verfrühte Osterglocke betrachtet. Das zweite Treffen ist ein veritabler Zusammenstoß, doch bevor ein Wortwechsel entstehen kann, hat Ben sich schon die Finger in die Ohren gestopft und ist davongelaufen.
Ben und Lea: zwei versponnene, mit vielerlei Alltagsneurosen ausgestattete Twenty-somethings, die in einer nicht benannten Stadt in zwei verschiedenen WGs leben und allem Anschein nach irgendetwas studieren, was jedoch für die Geschichte nicht weiter von Belang ist. Stattdessen fahren sie Fahrrad oder gehen barfuß auf den Friedhof, gelegentlich auch auf Partys. Öfter jedoch bleiben sie daheim, um über den Sinn des Lebens nachzugrübeln, oder weil ihnen das Draußen schlichtweg unheimlich ist.
Ben mag zwar Menschen grundsätzlich und unterhält sich auch gerne mal mit ihnen, tiefere Beziehungen einzugehen jedoch fällt ihm schwer. Eine wirkliche Verbindung besteht lediglich zu seinem Mitbewohner Tjorven, der kaum weniger verschroben ist als Ben selbst. Selten bekommt Tjorven ohne Bens Hilfe die Wohnungstür auf. Beide haben schreckliche Angst vor dem Flur. So gestalten sich schon kleine Verrichtungen des Alltags wie Duschen, Essen kochen oder dem Postboten öffnen äußerst problematisch. Seitenlang darüber zu lesen, welche Schwierigkeiten es Ben bereitet, ins Badezimmer zu gelangen, mag zunächst absurd, langatmig oder schlicht irrelevant erscheinen. Wenn man sich jedoch darauf einlässt, in seine Gedanken- und Gefühlswelt einzutauchen, sind derartige Passagen höchst anrührend und zugleich auf subtile Art komisch. Dabei gibt Annika Scheffel ihre Figuren nie der Lächerlichkeit preis, sondern schafft trotz aller Absonderlichkeit viel Raum für Identifikation.
Die wirklichen Probleme beginnen, als Ben, der bis dato die Beobachterrolle vorzog, beschließt, in diesem Frühling „mitzumachen“: Er beschließt, sich zu verlieben. Und zwar in Lea. Eigentlich ist es gar nicht sein Beschluss, sondern eine Entscheidung, die bereits getroffen wurde. Etwas, das man auch „Schicksal“ nennt.
Von nun an hat Ben „als Fußnote immer das Wissen: Lea wird sterben.“ Bei ihrer dritten Begegnung wird es geschehen. Warum, weiß Ben nicht, nur, dass er durch seine Liebe zu ihr, vielleicht durch seine bloße Existenz, Schuld sein wird an ihrem Tod. Daher auch sein Bestreben, ihr um jeden Preis aus dem Weg zu gehen. In dieser Widersprüchlichkeit steckt sehr viel Wahrheit: Das, was wir am meisten begehren, ist zugleich meist das, was wir am meisten fürchten. Und vielleicht gehört auch das Wissen um Leas Tod notwendig zur Schicksalhaftigkeit der Begegnung. Die unlösbare Verbindung zwischen Liebe und Tod, die in Bens Kopf entsteht, ist ein aus der Romantik bekannter Topos: Mit dem Verlieben wird auch die Vergänglichkeit – die eigene und die der geliebten Person – jäh und schmerzhaft erfahrbar.
Äußerlich gehen die Dinge ihren gewohnten Gang: „Lea macht jetzt dreimal die Woche Sport und guckt manchmal abends die Nachrichten.“ Sie kommt mit Tjorven zusammen, um Carlo zu vergessen, um sich vom Schreiben ihrer Abschlussarbeit abzulenken und weil sie einfach ab und zu gern Gesellschaft hat. Die simple Kausalität dieser Darstellung suggeriert: So sind Beziehungen eben. Neben dem, was man sich einredet, was man vielleicht gern hätte, zählt vor allem die Außenwirkung: „Jeder kann sehen, dass die beiden sehr ineinander verliebt sind.“ Zwischen den Zeilen jedoch klingt an, dass es möglicherweise noch etwas anderes gibt. Etwas, das über Studieren, Jobben, Partyknutschen und eine mittelmäßig-harmonische Zweierbeziehung hinausgeht. Vielleicht existiert dieses „andere“ lediglich in Bens Kopf, vielleicht auch anderswo. In kurzen Passagen wird immer wieder auf eine zweite, verborgene Realität verwiesen, eine Märchenwelt, in der von Königen und Helden die Rede ist.
Der fließende Wechsel zwischen altertümlicher Sprache und Jugendslang gelingt der 1983 in Hannover geborenen Autorin meisterhaft. Ihre Affinität zum Theater ist den mal der Alltagssprache abgeschauten, mal dramatisch zugespitzten Dialogen unmittelbar anzumerken. Lediglich an einigen Stellen ufern diese Sprachspielereien zu sehr aus, und man hätte sich eine Reduktion auf das Wesentliche gewünscht. Jedoch nimmt man das Überbordende dieses experimentierfreudigen Debüts gern in Kauf, denn perfekt glatt geschliffene Texte, die weder inhaltlich noch sprachlich etwas Neues bieten, gibt es auf dem Buchmarkt zur Genüge.
Als Lea mit Tjorven vor der Tür steht, flieht Ben. Nicht aus Eifersucht, sondern aufgrund seiner Gewissheit, dass Lea bei ihrer dritten Begegnung sterben muss. Auf seiner Flucht verliert Ben, der eigentlich Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho Schmitt heißt, nach und nach seine Namen. In jedem Kapitel ist er ein anderer: „Mit der Abgabe eines Namens erreicht man einen Zustand, der sich wie eine traurige Freiheit anfühlt.“ Möglicherweise eine Voraussetzung, um sich Stück für Stück der verborgenen Welt zu nähern. In einer anderen Wohnung, in einer anderen Stadt, schlüpft Ben durch den Badezimmerspiegel in eine Parallelwelt, in der es – wie im klassischen Märchen – eine Liste mit Aufgaben zu erfüllen gilt. An der letzten scheitert er kläglich: „Lebe glücklich und zufrieden bis an dein Lebensende.“ Er kann die Lea hinter den Spiegeln nicht retten, weil er nicht weiß, was auf den Satz folgt, mit dem Märchen normalerweise enden.
Die Wunden, die Ben sich als Olivio hinter den Spiegeln zuzog, nimmt er als Julio mit hinüber in die andere Welt. So ist die Idee, den Protagonisten gleich siebenfach auftreten zu lassen, auch eine originelle Ausgestaltung des postmodernen Gedankens über die Wandelfähigkeit von „Identität“.
Längst geht es nicht mehr nur um Ben und Lea, sondern um die Bewegungen und Begegnungen, die die beiden mit ihrem Handeln und Denken in Gang setzen. Parallel werden in schlaglichtartig erhellten Szenen die Geschichten mehrerer Personen erzählt, deren flüchtiges Streifen sie in ein immer dichteres Netzwerk verstrickt. Sie alle sind Suchende, in deren Leben sich aufgrund des „Schmetterlingseffekts“ der Zufallsbegegnungen etwas Grundsätzliches ändert. So sehen Bens Eltern, die ihren Sohn besuchen wollen, im Zug eine in Plastiktüten gekleidete Frau. Diese Frau ist Leas Mutter, die sich auf dem Weg zu ihrer Tochter befindet. Zur gleichen Zeit unternimmt der Briefträger, der Ben und Tjorven täglich die Post brachte, eine Reise ans Meer. Dieser Umstand wiederum lässt den alten Herrn May, der sich als Schatten des Postboten versteht, ohne Daseinsberechtigung zurück. Er muss eine neue Aufgabe finden, und – man ahnt es – diese Suchbewegung wird wieder neue Ereignisse auslösen. Und auch der Tod ist unterwegs in seinem Gummiboot, „auf der Suche nach Anschluss an alles, was atmet“.
Der Plot verfolgt eine sich der Alltagslogik oftmals entziehende, jedoch in sich weitgehend schlüssige Dynamik. En passant hinterfragt Scheffel das reibungslose Funktionieren, das uns tagtäglich abverlangt wird, sei es in zwischenmenschlichen Beziehungen oder in Verwertungszusammenhängen: „Woher stammt diese Regel, dass alles einen Sinn macht und irgendwie aufgeht am Ende und mit Draufsicht?“
Trotz dieser Kritik an der geradlinigen Erzählstruktur wirkt das Zusammenlaufen der Handlungsstränge am Ende ein wenig forciert und folgt zu sehr der Forderung nach einem „glatten Aufgehen“, die der Plot eigentlich unterlaufen möchte. Dankenswerterweise vermeidet Scheffel ein klassisches Happy End. Stattdessen erkennt Ben, dass Lea lediglich eine Idee in seinem Kopf war, die ihn vor dem Alleinsein bewahrt hat. Insgesamt ist „Ben“ ein wunderschön lyrisch erzähltes Plädoyer für die Langsamkeit, die Detailsicht und das Aushalten der Einsamkeit.
Literaturangabe:
SCHEFFEL, ANNIKA: Ben. kookbooks, Berlin 2010. 272 S., 19,90 €.
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