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Wahlprogramme für Doktoren?

Ein neuer Index gibt Auskunft über die (Un-) Verständlichkeit

© Die Berliner Literaturkritik, 27.08.09

Von Georg Ismar

BERLIN (BLK) - 1998 fasste die SPD ihr Wahlprogramm auf einer Postkarte zusammen. „Ich gebe Ihnen neun gute Gründe, SPD zu wählen, der zehnte heißt Kohl“, warb Kanzlerkandidat Gerhard Schröder um die Wählerstimmen. Man solle diese Garantiekarte aufheben, er werde sein Wort halten versprach der spätere Kanzler. Glaubt man Frank Brettschneider, Kommunikationswissenschaftler an der Universität Stuttgart-Hohenheim, war das ein guter Ansatz. „Die eigentlichen Programme sind für die meisten Bürger viel zu unverständlich, zum Teil reichen sie an das Niveau von Doktorarbeiten heran“, kritisiert der Wissenschaftler. „Der Trend geht deshalb zu Kurz-Kurzfassungen, die sind verständlicher.“

So wie Beipackzettel bei Medikamenten in der EU seit einiger Zeit klarer formuliert werden müssen, sei es auch für die Politik wünschenswert, bürgernäher zu formulieren. Besonders die Linke scheine eine Vorliebe für komplizierte Schachtelsätze und Fremdwörter zu haben. „Warum spricht die Partei statt Agroenergie-Import’ nicht von der ‚Einfuhr von Biodiesel’?“, fragt Brettschneider. „Eigentlich müsste erst die Forderung der Linken greifen, massiv in Bildung zu investieren, damit alle Bürger ihr Programm verstehen.“ Und die Grünen sprechen zum Beispiel von energetischer Sanierung, wenn es um Wärmedämmung geht. Und nicht jeder weiß, was die Union mit einem abgeflachten Mittelstandsbauch oder der kalten Progression meint. Besonders die Passagen, wo die Fachreferenten Hand angelegt haben, sind oft erst bei mehrmaligem Lesen zu verstehen.

Auf einem Verständlichkeits-Index, den die Universität Hohenheim entwickelt hat und der von 0 (gar nicht verständlich) bis 20 (maximal verständlich) reicht, landet die Linke bei 6,5. Die Grünen schneiden mit einem Wert von 11 am besten ab. Zum Vergleich: Eine Doktorarbeit kommt im Schnitt auf 4,3, die politische Berichterstattung der „Bild“-Zeitung auf einen Wert von 16,8. Das FDP-Programm ist ebenfalls anspruchsvoll (Wert: 8,4), gefolgt von Union (8,6) und SPD (10,5). Überall dort, wo beim Programm Kompromisse gesucht werden mussten, wird es besonders verquast. Den Rekord mit dem längsten Satz hält die SPD: Eine Passage zur Reduzierung der CO2-Emissionen hat 74 Wörter.

Wenn man sich in Berlin umhört, heißt es immer wieder: Die Sprache muss sich ändern. „Wir denken jeden Tag darüber nach, wie das, was wir besprechen und entscheiden, wirkt. Wie kommt unsere Sprache an? Sind unsere Argumente verständlich?“, sagt etwa der  parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Norbert Röttgen. Die bisher jüngste Bundestagsabgeordnete Anna Lührmann (Grüne) meint: „Wir müssen immer, wenn wir den Mund aufmachen, im Kopf haben, dass das auch Leute verstehen sollen, die nicht jeden Tag die Zeitung lesen.“

Die Juso-Vorsitzende Franziska Drohsel, die bei einem Besuch im Willy Brandt-Haus spontan Postkarten mit zentralen SPD-Forderungen aushändigt, moniert aber auch eine gewisse Oberflächlichkeit. Es sei problematisch, wenn die Dienstwagen-Affäre von Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mehr Interesse hervorrufe als die Wahlkonzepte der Parteien. Die angeblich zu komplizierte Sprache werde teilweise auch als vorgeschobenes Argument gebraucht.

Brettschneider verweist darauf, dass Politik sicher komplexer geworden ist. Forschungsarbeiten zeigten aber, dass es auch in der Vergangenheit Trends bei der Sprache gab, die bis heute zählen. „Das, was populär ist, wird verständlich und klar formuliert.“ Ein Beispiel dafür seien die Regierungserklärungen von Kanzler Schröder. Sobald es aber unpopulär werde, gebrauchten viele Politiker komplizierte Schachtelsätze, die kaum zitierfähig seien. „Man will damit nicht in die Abendnachrichten“, erläutert Brettschneider.

Parteien sollten vielleicht dem Beispiel des Justizministeriums folgen, um noch verständlicher zu werden, meint der Forscher. Seit einigen Monaten kümmern sich dort Sprachforscher um die Gesetze der Ministerien und kämpfen gegen unlesbare Schachtelsätze. Und die Juso-Vorsitzende Drohsel sagt, das beste Rezept für die Parteien sei immer noch die Begegnung mit dem Volk: „Auf der Straße kann am besten sehen, wie seine Argumente und die Sprache bei den Bürgern ankommen.“

 

Hintergrund:

Einige Fehlleistungen, die Forscher der Universität Stuttgart-Hohenheim herausgefiltert haben.

VERSTANDEN?

- „Normenkontrollrat und Standardkostenmessung haben sich bewährt.“ (CDU)

- „Wir werden für Existenzgründerinnen und Existenzgründer flächendeckend neue Anlaufstellen in Form eines One-Stop-Shops schaffen, ihnen den Zugang zu Wagniskapital erleichtern und gezielte Beratungsangebote (...) umsetzen und ausbauen.“ (SPD)

- „Wir brauchen eine ökologisch-technische Effizienzrevolution, eingebettet in alternative Lebensstile.“ (Linke)

- „Leitungskorridore von Schwerpunkten der Kraftwirtschaft zu möglichen Speicherstandorten sind planerisch frühzeitig vor konkurrierenden Einflüssen (...) zu sichern.“ (FDP)

FREMDWÖRTER:

- Regenerative Vollversorgung (Linke)

- Agroenergie-Importe (Linke)

- Energetische Sanierung (Grüne)

- Corporate Social Responsibility (SPD)

DER LÄNGSTE SATZ:

„Das international vereinbarte Ziel, die CO2-Emissionen in Industriestaaten bis 2050 gegenüber 1990 um 80-95 Prozent zu reduzieren, ist nur erreichbar, wenn wir jetzt in die Modernisierung unserer Kohle- und Gaskraftwerke investieren, um weniger CO2 zu emittieren; wir die Emissionsbudgets im Rahmen der EU und der internationalen Vereinbarungen weiter absenken; der Anteil erneuerbarer Energien über das Jahr 2030 hinaus weiter ansteigt; und der jetzt bereits geltende Vorrang der Einspeisung ins Netz erhalten bleibt.“ (SPD/74 Wörter)


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