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Wahre Geschichten kleiner Leute

Ein Stück Mikrogeschichte aus dem Mittelalter

© Die Berliner Literaturkritik, 27.05.10

Von Behrang Samsami

„Was uns, mit dieser Quelle, den Blick auf damalige Lebenswirklichkeiten und persönliche Schicksale so weit öffnet, ist einmal die Totalität, mit der die mittelalterliche Kirche das ganze damalige Leben bis in die letzten Kapillaren durchdrang. Und es ist, zweitens, die dem Gläubigen (sei er Kleriker oder Laie) abverlangte Gewissenhaftigkeit, die eigenen Verstöße gegen das Kirchenrecht zu erkennen und zur Sprache zu bringen. Wo die Kirche bereits die Verfehlung festgestellt hatte, folgte ein Verfahren, das in Materie und Vorgehen genau bestimmt war. Aber es kam anderes hinzu, das uns den Blick noch um ein weiteres öffnet: Es war dem Einzelnen überlassen, was er, sein bisheriges Leben erinnernd, an Fällen möglicher Schuld oder Mitschuld erkennen wollte.“

Diese Worte des Historikers Arnold Esch zu Beginn des Abschnitts „Die Quelle und ihr Aussagewert“ fassen in Kürze zusammen, was den Leser der von ihm herausgegebenen „Wahren Geschichten aus dem Mittelalter“ erwartet: Es handelt sich um in Latein verfasste Gesuche deutschsprachiger Petenten, die zu irgend einer Zeit in ihrem Leben einmal ein „Problem mit Rom“ gehabt haben. Esch konkretisiert die Fälle in seiner „Einführung“ auf folgende Art und Weise: „Wer in irgend einer Form gegen Bestimmungen des Kirchenrechts verstoßen und eine entsprechende Maßregelung erfahren oder zu befürchten hatte, beschritt diesen Weg, sei es direkt oder als Appellation nach vorausgegangenem Prozeß vor dem örtlichen bischöflichen Gericht. Häufig ging es etwa darum, daß ein Geistlicher an der Verletzung oder gar am Tod eines Menschen schuldig oder mitschuldig geworden war und sich damit im Zustand der irregularitas befand und folglich inhabilis war. Mit anderen Worten: er war ,non in regola‘ und darum ,ungeeignet‘ zur Ausübung seines Priesteramts.“

Dem bis zu seiner Emeritierung als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom tätigen Geschichtswissenschaftler standen dabei für seine Darstellung rund 33.000 Gesuche aus den Territorien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zur Zeit der Pontifikate Eugens IV. bis Alexanders VI., also von 1431 bis 1503, aus vatikanischen Archiven zur Auswahl. Die von ihm ausgewählten Schreiben der deutschsprachigen Petenten an die Sacra Poenitentiaria Apostolica, an das oberste päpstliche Buß- und Gnadenamt, wurden anschließend in verschiedene Abschnitte aufgeteilt: So gibt es ein Kapitel allgemein zur „Gesellschaft“. Darauf folgt eines speziell zu „Geistlichen“. Ein drittes behandelt die Angelegenheiten „[i]m Kloster“. Ein viertes nimmt sich den „Krieg“ vor. Ein fünftes stellt Fälle „[i]m Wirtshaus“ in den Vordergrund. Dann geht es um Geschehnisse „[a]uf dem Lande“ und dann um welche „[i]n der Fremde“. Das letzte Kapitel schließlich thematisiert „[h]istorische Ereignisse gespiegelt in kleinen Ereignissen“.

Das Anziehende an diesen teilweise nacherzählten, teilweise zitierten Gesuchen ist, dass darin Lebenswege, Episoden und Schicksale von Personen jedes Standes, nicht nur von Klerikern, sondern auch von Laien, zum Augenschein kommen, die ansonsten nicht überliefert worden wären. Es sind gewissermaßen ihre Gewissensbisse, die sie dessen würdig gemacht haben. Dabei geben ihre „narrationes“, die im Mittelpunkt des Buches stehen, persönliche Gründe an und stellen die Rahmenhandlung vieler Fälle dar. Zahlreich sind die Fälle, wie auch Esch schreibt, von Tötung und Körperverletzung, vom Verlassen oder Wechsel des Klosters, vom unrechtmäßigen Erwerb eines kirchlichen Amtes, von Zölibatsvergehen, von der Lockerung der Fastenvorschriften oder der Lösung vom Eid. Ebenfalls gibt der Historiker zu bedenken, dass es im Wesen dieser Quelle liege, dass sie „Verfehlung und Unglück anzieht und in Vergrößerung wiedergibt (und dabei den Geistlichen überrepräsentiert): Abweichungen vom normalen Verhalten, verbotene Liebe, Missgeschicke, Unfälle, Kummer und Depression“.

Liest man diese „Kurzgeschichten“, die in ihrer Art den Rezipienten zuweilen an Texte von Geoffrey Chaucer (1343-1400) und Giovanni di Boccaccio (1313-1375) erinnern, dann muss man sich freilich davor hüten, alles Gelesene stets für „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“ zu halten. Auch hier macht Esch darauf aufmerksam, dass es den Bittstellern nicht selten darum gegangen sei, ihr eigenes Verhalten in einem besseren Licht erscheinen zu lassen bzw. (Mit-)Schuld zu kaschieren. Insgesamt ist die Lektüre jedoch ein großer Gewinn, taucht der Leser doch für kurze Zeit in das 15. Jahrhundert ein und erhascht einen Einblick in die Kultur und das damalige Leben der Menschen im deutschsprachigen Raum.

Eschs „Wahre Geschichten aus dem Mittelalter“ stellen damit ein Stück Mikrogeschichte dar, ohne dabei, wie es der Herausgeber betont, „aus neumodischen Absichten einer weiteren Alltagsgeschichte“, eine weitere „Geschichte von unten“ sein zu wollen. Die vorliegende, gut lesbare Quellensammlung führt den Blick von den Staatsgeschäften und politischen Entscheidungen mittelalterlicher Herrscher fort zu den Sorgen und Hoffnungen der „einfachen“ Bevölkerung. So ist die in der Einleitung aufgestellte These am Ende stimmig: Die „anthropologische Konstante ist dominierender als die historische Variable.“ Dennoch scheint auch hier der zeitgeschichtliche Hintergrund, etwa die Burgunder- oder die Hussitenkriege, zumindest bei einem Teil der Bittgesuche immer wieder durch.

Literaturangabe:

ESCH, ARNOLD: Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst. Mit 25 Abbildungen. Verlag C.H. Beck, München 2010. 223 S., 22,95 €.

Weblink:

C.H. Beck


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