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Wahrnehmung und Wahnsinn

Der Band „Das Haus der Angst“ mit Texten von Leonora Carrington

© Die Berliner Literaturkritik, 05.09.08

 

Es ist jener gesprungene Spiegel auf der Bühne dort vorn, der uns beunruhigt. Unheilvolle Bilder wirft er auf uns zurück; grelle Scheinwerfer beleuchten einzelne Szenen, wie zufällig ausgewählt aus unzähligen, die so im Dunkel verborgen bleiben. Seltsame Geschöpfe wandern umher und bewegen sich in dieser merkwürdig stumpfen, entsetzten Atmosphäre unter sternlosem Himmel. Sie sind uns ähnlich.

„Die Aufgabe des rechten Auges ist es, in das Teleskop zu blicken, während das linke Auge in das Mikroskop sieht“ – so beschreibt Leonora Carrington die Methode, mit deren Hilfe die Erzählungen des in diesem Jahr im Suhrkamp Verlag erschienenen Bandes entstehen konnten. Die 1917 in England geborene Surrealistin, mehrjährige Geliebte Max Ernsts, temporär Wahnsinnige und als Kind konsequent in Spiegelschrift Schreibende, hat längst ihren Platz in der Kunstwelt behauptet; ihr schriftstellerisches Werk ist weitaus weniger bekannt.

Die Wesen, die uns hier in ihren Erzählungen begegnen, sind jedoch nicht weniger sonderbar als die ihrer Gemälde, und von einer solchen geisterhaften Präsenz, als habe sie sie aus dünnem Transparentpapier geschnitten und über die Bühnenbilder ihres Schattenspieltheaters geworfen, so dass sie beunruhigend geschmeidig von Szene zu Szene gleiten, von eben jenen Scheinwerfern beleuchtet, unwissend, nicht verstehend und nicht fragend; merkwürdig knochenlose Kreaturen, die Charaktere besitzen, die sie wie eine neue Identität angenommen haben und sich in ihr Schicksal fügen, lautlos marschieren, tonlos kreischen, und zweifellos leben, aber leben, als halte sie eine dunkle Macht an Silberfäden.

Inmitten einer kargen Bühnenlandschaft finden wir die Autorin selbst, in ihre weißen Laken gehüllt, gänzlich allein und doch umringt von maskenhaften Fratzen, die sie bedrängen, sie flüsternd verführen und sie durch jene wie auf Sperrholzplatten gemalten Gebiete der Traumlandschaften dirigieren, die gewöhnlich gerne gemieden werden. Sie durchlebt jene einzelnen Sequenzen ohne Erlösung zu erfahren: Der Vorhang ihres düsteren Theaterraumes fällt ebenso abrupt wie er aufgezogen wurde. Ausgerüstet mit dem Verstand der täglichen Welt, und daher beobachtend und dennoch bereit und entschlossen, die Existenz jener traumhaft nächtlichen Welt nicht anzuzweifeln, ist sie beinahe kindlich am Fremdartigen interessiert.

Und wie ein Kind haspelt sie mit weit aufgerissenen Augen ihre Berichte von intimen Erfahrungen mit dem Schrecken einer exotischen Realität herunter, in einer Sprache von kantiger Schönheit und großer Einfachheit. Dies ist zweifellos ein Spiel mit der Fantasie, so wie alle Surrealisten gerne spielten; dennoch ist es auch mehr als das: der sehr ernsthafte Versuch, Imagination und Verstand als gleichberechtigte Filter der Wahrnehmung nebeneinander gelten zu lassen und Bewusstsein und Unterbewusstsein durch alle Schichten hindurch auszuloten.

So erscheinen ihre Erzählungen wie Zerrbilder unserer taghellen Welt, von eben jenem gesprungenen Spiegel auf unsere Leinwand geworfen: Hier erweitern sich die Möglichkeiten, unsere Gesetze gelten hier nicht mehr und Ungeheuerliches kann geschehen. Jene sechs kurzen Episoden, die den vorliegenden Band eröffnen und zumeist wenige Seiten lang sind – die Titelgeschichte „Das Haus der Angst“ (1938) sowie die fünf alptraumhaften Märchen des 1939 auf französisch erschienenen Erzählbandes „Die ovale Dame“ – haben nicht den Anspruch in sprachlicher Hinsicht als virtuos-poetisches Werk zu bestehen; es geht vielmehr um eine Dokumentation dessen, was sein könnte. Hieraus ziehen sie zweifellos die größte Poesie.

Ganz ähnlich und zugleich von vollkommener Andersartigkeit erscheint ihr ebenfalls in diese Ausgabe aufgenommener knapper Roman „Der kleine Francis“.

Geschrieben 1938 inmitten des gelben Südfrankreich, umgeben von jenen fantastischen und heute weltberühmten Skulpturen, die rund um das Künstlerdomizil von Leonora Carrington und Max Ernst installiert wurden, zwischen den Weinbergen von Saint-Martin-d’ Ardèche und der unbändigen Freude einem vorbestimmten Leben und strengen Elternhaus entronnen zu sein, wird in diesem geschlossenen Prosastück die sprachliche Nüchternheit der traumhaften Miniaturen, die sich dort als mal kreischender mal murmelnder Grundton manifestiert, durchgehalten; hier erzeugt sie jedoch erstmalig einen Ton, der tief, summend und sonor erscheint, als drücke ein imaginärer Finger sämtliche 106 Seiten hindurch immer dieselbe Taste einer gewaltigen Orgel in einer französischen Sandsteinkirche.

„Der kleine Francis“, der erstmalig auf Deutsch vorliegt, ist ihr erster Roman, und er blieb neben dem 1974 erschienenen Roman „Das Höhrrohr“, der leider in dieser Sammelausgabe fehlt, ihr einziger. Er gilt weithin als Schlüsselroman, in dem sie die Erlebnisse jener wenigen „paradiesischen“ Jahre in Frankreich verarbeitete. Ihre Figuren sind hier weit weniger durchscheinend; sie sind fleischlicher als die Kreaturen der dame ovale, und in der Tat handelt es sich beim kleinen Francis weniger um eine Beschreibung dessen was möglich sein könnte als um ein Liebesdrama mit mythischen Zügen, in dem der gutmütige Ubriaco und sein zarter Neffe, eben jener Francis, ihre höchst leidenschaftliche und zugleich platonisch bleibende Liebe vor Ubriacos rachsüchtiger Tochter zu retten versuchen.

Ihre Flucht führt sie durch ein märchenhaftes Frankreich, zu seltsamen, wiederum traumhaften Orten und Fabelwesen; es ist dasselbe Land, das wir alle kennen und doch ist man hier so fremd, als habe jemand ein Vergrößerungsglas aufgelegt und man durchwanderte nun gleichsam schielend die Seelenlandschaften der einsamen Flüchtigen, die sich verändern und verfärben je nach Qual oder Glück; hier wird das Land zum Spiegel der Befindlichkeit und zum rohen, rauen Organismus, dessen Frucht eine Frau mit betäubend duftendem Haar ist, die für das Ende der gescheiterten Odyssee des Paares steht; ein heidnischer Todesengel, der in Kapellen Orgien feiert, und, als Onkel Ubriaco längst verloren ist, Francis Hinrichtung inszeniert und ihm doch keine Erlösung schenken will. Aus diesen Fäden wirkt Leonora Carrington ihren Romanteppich vor üppig hinaquarellierten Kulissen, die nichts mit den schauerlichen Pappdeckeln ihrer Kurzerzählungen gemein haben.

Die Surrealisten hielten die Erfahrungen, die die Menschen in ihren Träumen machen, mit denen, die im Wachzustand gemacht werden, für gleichberechtigt. In diesem Sinne sind die Erzählungen Leonora Carringtons Zeugnisse eines mühelosen Wechsels zwischen so genannter Wach- und Traumwelt, zwischen der Welt, die den Menschen Sinn macht und der Welt des angezweifelten Sinns, also der des Unsinns. Jene Tür hinter dem Vorhang, die beide Welten miteinander verbindet, finden wir, sonst verriegelt, im Schlaf ganz ohne unser Zutun bereits weit offen stehen, und wir spazieren hinaus in die weite graue Ebene; finden hier eine Ungeheuerlichkeit und dort, und wundern uns nur selten. Leonora Carrington stößt in ihren Erzählungen jene Tür zur taghellen Stunde auf, in dem sie uns von der anderen Seite berichtet, und lässt uns für Augenblicke durch den Spalt schauen, so dass wir mit unseren wachen Sinnen, von unserer täglichen Realität geformt, erstaunt in diese jenseitige Welt schauen, die uns im Schlaf so bekannt vorkommt und uns dort ebensolchen Sinn macht, wie hier unsere diesseitige.

Es ist also das willentliche öffentliche Heben des Vorhangs, was die Surrealistin hier vorführt. Das Ideal der surrealistischen Bewegung wird jedoch da am konsequentesten umgesetzt, wo keine Grenze mehr vorhanden ist und die Abfolge der sich einstellenden Bilder nicht mehr gewollt hervorgerufen wird, sondern sich ganz natürlich ergibt, als immer wieder neues Verständnis einer bewegten Welt. Gewollt wurde nur das leichtfüßige Spiel mit beiden Welten, so wie es auch Leonora Carrington in ihren Erzählungen betrieb, und das möglichst unwillkürliche Vermischen des widersprüchlichen Sinns, den beide machen. Dieses Prinzip sollte auf die Kunst angewendet werden; für die junge Frau wurde daraus jedoch schon bald ein gefährliches, das vollständig von ihr und ihrem Denken Besitz ergriff.

In „Unten“, erstmalig erschienen 1944, berichtet sie von ihrem rasanten und quälenden Sturz in den unkontrollierten Wahnsinn, der mehrere Monate anhielt. Was zuvor ein spielerischer und leichter Umgang mit dem Jenseitigen war, machen ihre durch die wiederholte Internierung Max Ernsts in Frankreich und ihre eigene Flucht nach Spanien angespannten Nerven nun als einzig existierende Wahrheit aus; sie streift erschüttert umher in einem Land, das sie inzwischen für ihr „Königreich“ hält; in dem Getöse der Strassen und Gassen von Madrid, in denen sich die Menschen drängen, Soldaten und Zivilisten, vom bedrohlichen Krieg wild durcheinander geworfen, entschlüsselt sie aus den Werbetexten der Plakate geheime Botschaften und demaskiert andere als machtvolle Zauberer, deren Schrecken nur sie bannen kann; inmitten des Gestanks und der Unsicherheit verbringt sie einsame Nachmittage, taumelt von Szene zu Szene, wird vergewaltigt und rettet sich, und destilliert aus jedem neuen Schrecken, dem sie ausgesetzt wird, eine Wahrheit heraus, die sich ihr schließlich als entsetzlicher Weltenplan offenbart, welcher ihr die Geschehnisse verständlicher macht, sie darin bestätigt auserwählt zu sein die Welt zu erlösen und sie schließlich in die Irrenanstalt der nordspanischen Stadt Santander bringt, wo sie jene alptraumhaften Monate in delirierendem Zustand durchlebt.

„Unten“ ist ein Bericht von nicht geringerer erzählerischer Kraft als die der Romane und Prosastückchen und von einer zweifellos höllischen Poesie; dennoch unterscheidet er sich wesentlich von jenen vorangegangenen Werken. Die Künstlerin ist durch die Krise reifer geworden; mit der Niederschrift der Erlebnisse löst sie sich nun von ihrem kindlich-unbedarften Stil, den sie hier durch eine dokumentarisch- ernsthafte Erzählweise ersetzt.

Wie heute allgemein bekannt ist, erholte sich Leonora Carrington von ihrem Anfall zermürbenden Wahnsinns; heute lebt sie in Mexico und hat sich mit zunehmendem Alter vom Surrealismus distanziert. Dem wie bereits erwähnt in dieser Ausgabe fehlenden „Höhrrohr“ wird ein deutlich satirischer Ton gegenüber den Attitüden ihrer jüngeren Jahre nachgesagt. Dennoch bleibt sie gerade durch die Nähe zu dieser Bewegung in der Literaturgeschichte einzigartig, und nichts könnte ihr Werk treffender charakterisieren als das Motto jener Strophe eines Gedichtes von Baudelaire, die sie selbst im kleinen Francis zitiert:

„s’ ist die Stunde sich zu berauschen! Um nicht gemarterte Sklaven der Zeit zu sein, berauscht euch ohne Unterlass! Mit Wein, Poesie oder Tugend, wie’s euch beliebt.“

Von Nina Seeger

Literaturangaben:
CARRINGTON, LEONORA: Das Haus der Angst. Sammelausgabe. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008. 243 S., 16, 80 €.

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