Von Tobias Roth
Politische Kunst ist eine schwierige Sache – geworden. Das politische Berserkertum im freudig aufgelösten, kunstgesättigten Gewand, wie es noch ein Aristophanes gepflegt hat, ist heute unmöglich. Und das nicht nur, weil heute einem Künstler vom Kaliber solcher Deutlichkeit Legionen von Anwälten und wahrscheinlich sogar der Verfassungsschutz auf den Fersen wären. Die Kunst hat den Marktplatz und die Agora nach und nach geräumt. Heinrich Heine, allem zum trotz einer der besten politischen Dichter deutscher Zunge, musste schon längst, um qualifiziert und künstlerisch politisch zu dichten, erst einmal gegen die politische Dichtung selbst vorgehen (Rings umragt von dunklen Bergen...). Die Grenzen, die Ausdifferenzierungen der Gesellschaft werden zwar in der Zwischenzeit wieder weggesehnt, aufgelöst, verflüssigt. Aber man hat sich schon daran gewohnt, dass ein Artefakt aus den kanonischen Kunstgattungen in erster Linie ein Kunstwerk ist, ambivalent sein darf oder soll, nicht eindeutig sein muss oder darf, etc. Die Kunst liegt heute in ihrem sorgsamen Bezirk, im white cube. Ist es da erfreulich oder befremdlich, wenn im Rotbuch Verlag eine Anthologie explizit und exklusiv der politischen Lyrik gewidmet wird?
„alles außer Tiernahrung“ heißt die Anthologie, die Tom Schulz herausgegeben hat, um neue politische Gedichte zu versammeln. Neben Gedichten des Herausgebers finden sich hier Werke der „üblichen Verdächtigen“ der zeitgenössischen Lyrikszene, aber nicht nur. Vertreten sind u.a. Daniel Falb, René Hamann, Stan Lafleur, Monika Rinck, Ron Winkler, Björn Kuhligk und Ann Cotten (über die Schreibweise ihres Nachnamens schien im Verlag Uneinigkeit zu bestehen). Die Geburtenjahrgänge der 70er-Jahre überwiegen also, die Spannweite reicht hier von ’65 bis ’85. Der Band teilt sich in vier Kapitel: Grob umreißend, ohne die lyrischen Texte mit scharfen Konturen und Inhaltsangaben zu okkupieren, könnte man so vielleicht von den Themenkreisen Mobilität/Migration, Arbeit, deutsche Vergangenheit, sowie Unsicherheit/Unmut sprechen. Wie hieraus schon erahnbar wird, ist das neue politische Gedicht weiterhin treu der Tradition des kritischen politischen Gedichts verschrieben, sodass man sich ein wenig zu sehnen beginnt nach dem Enthusiasmus der Utopie, einer anderen Idee. Situation normal all fucked up: das ist in diesem Sinne nichts Neues.
Die Stärke vieler Gedicht liegt darin, dass sie das politische und allgemein das soziokulturelle Geschehen durch den Reflex des Subjekts in den Gedichtraum bringen. So wird etwa bei Florian Voß vom Fernseherlebnis Lang Langs aus der Assoziationsraum auf Katastrophen blitzartig und hart aufgerissen. Das erschließt sich unmittelbar und tastet genau dem kantigen Flow solcher Gedanken nach. Simone Hirths „Diese eine Zitrone“ ist der konzentrierte Unmut in all seiner Plötzlichkeit, der seine Gründe und Ziele nicht weiß und nicht zu wissen braucht, in ein Emblem gefasst, das gegenwärtiger nicht sein könnte.
Wie aber wird aus diesem Spiegel etwas in jenen großen Rahmen zurückgeworfen? Wenn alles, auch der Blick, das Erleben der einzelnen Privatperson politisch ist, so könnte man denken, dass sich der Zusatz „politische“ Lyrik eigentlich erübrigt. Die scharfkantigen (moralphilosophischen) Bezugssysteme haben sich, nicht zuletzt glücklicherweise, aufgelöst, sind ambivalent geworden – daran scheint ja auch unsere Parteienpolitik zu kranken. Eine klar konturierte Kerbe, in die sich immer sattsam und konsensfähig schlagen lässt, bleibt natürlich die Kapitalismuskritik, wie etwa in Adrian Kasnitz’ Gedicht am bankomat. (Aber ich frage mich im Falle dieses Gedichtes, wen man eigentlich mit solch flacher Selbstzufriedenheit noch hinter dem Ofen hervorlockt.)
Ein Bezugssystem, von dem aus sich eine größere Spannweite der Aussage erzielen lässt, ist im postmodernen Spiel mit Palimpsesten die Literaturgeschichte selbst. Dieses Spiel geht aber nicht immer ganz auf, zumal wenn die Markierungen besonders plakativ gesetzt sind. Das kurze Gedicht „Volkslied“ von Florian Voß etwa greift in knappen, kräftigen Bildern die Narrheit einer forschen, martialischen Selbstfeier etwaiger Territorialherrschaften ab und an. „Die Fahne hoch / die Schellenkappe auf / Die Reihen fest geschlossen.“ Gerahmt wird dieser Holzschnitt einer abgründigen Groteske mit Verweisen auf Wilhelm Müllers Gedicht vom Lindenbaum, des fünften Gedichts der Winterreise, bekannt durch Silchers Bearbeitung der Verarbeitung Schuberts. Der berühmte erste Vers eröffnet auch hier: Am Brunnen vor dem Tore, und im letzten Vers werden die lieben Volksgenossen zum Tanze gefordert, immer um den Lindenbaum. Aber diese Kombination von Ironisierung und dominanter Anspielung geht nicht auf, arbeitet gegen sich selbst. Im Angriff auf besagte Narrheit gleicht die Verwendung von Müllers Gedichtraum zur karikaturistischen Steigerung von Volksgenossen unerfreulichem Freundbeschuss: das Gedicht gebraucht den Missbrauch eines Gedichts und schreibt ihn so weiter. Deshalb gelingt es zuletzt nicht, zu überwältigen, was angegriffen wurde.
Man sehe momentan „den schiefen Turm der transnationalen Wirtschaften kippen“, schreibt Schulz in seinem Vorwort zur Anthologie. Noch sitzen wir sicher und gut und können entspannt und im Vorzeichen der theoretisch-moralisch eingefärbten Prognose beobachten, kritisieren, Ethik treiben. Wenn man es aber ernst nimmt, muss man auch mit einer sehr unangenehmen Vanitas Ernst machen. Hier und da spähen die Katastrophenszenarien aus diesem Buch hervor. Von den „Trümmern der weltkapitalistischen Apotheose“ spricht Schulz, und über diesen leuchte die kritische Dichtung. Seien wir also froh, dass es Anthologien gibt, nicht nur irgendwelche, sondern solche. Lesen wir also noch solche Gedichte, um uns an den Metaphern all die Fragilität vor Augen zu führen und uns vielleicht abzuhärten – bevor wir keine Gedichte mehr lesen können, wenn diese Metaphern aufhören, Metapher zu sein.
Literaturangabe:
SCHULZ, TOM (Hrsg.): alles außer Tiernahrung. Neue politische Gedichte. Rotbuch Verlag, Berlin 2009. 144 S., 16,90 €.
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